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Werden Sie nicht zum Schweigekanzler!

Die Studentin Miriam Ressi wendet sich in einem offenen Brief an Sebastian Kurz.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, „Dass Menschen in der Nacht herausgerissen werden und außer Landes gebracht werden, das kann schon vorkommen“ – so lautete Ihre Antwort auf heftige Kritik von Bürgern in einer Vorarlberger Bürgerdiskussion an der aktuellen Abschiebungspolitik. Was die Wut auf Seiten der Vorarlberger hervorbrachte, war der Fall einer schwangeren Mutter, die von ihrem dreijährigen Kind getrennt wurde. Handlungsbedarf der Regierung und somit des Bundeskanzlers sahen Sie dabei allerdings nicht. Schuld, so meinten Sie in einem Interview mit den Vorarlberger Nachrichten, trügen die Vorarlberger Beamten. 2011 sieht die Situation noch gänzlich anders aus. Ein junger Mann wird überraschend Staatssekretär für Integration. Ein junger Mann, der verändern will. Mit dem 24-jährigen Sebastian Kurz wird Integration auch in der ÖVP zu einem Thema. Dieses Feld „weder den rechten Hetzern noch den linken Träumern überlassen“ und „sich nicht zu polarisierenden Aussagen hinreißen lassen“ waren Aussagen, für die Sie damals noch standen. Was ist aus diesem Sebastian Kurz geworden?
Was ist aus dem Sebastian Kurz des Jahres 2011 geworden? Ein Schweigekanzler? Foto: Expa/Michael Gruber
Von Ihrer Position „Wir haben zu wenig Willkommenskultur“ haben Sie heute eine ideologische Kehrtwende zu „Es braucht ein Ende der Einladungspolitik“ vollbracht. Das Ergebnis: Integrationsförderungen sollen massiv reduziert und Lehrlingsplätze für Asylwerber gestrichen werden. Auch wenn man nicht länger leugnen kann, dass Österreich ein Einwanderungsland geworden ist: Betriebe suchen händeringend nach Fachkräften. Eine schwindende junge Generation trifft auf die Generation der Baby-Boomer. Wie sollen sich da ohne Zuwanderung Pensionen und andere Sozialleistungen ausgehen? Wo ist hier die Wirtschaftspartei, die Migration als Chance für die österreichische Ökonomie wahrnimmt? Doch das Ausländerthema rechnet sich: Hohe Umfragewerte auf Kosten von Menschen. Was das konkret für die Betroffenen bedeutet, sieht man auch am Fall Magomedov: Die Familie aus Dagestan war in Osttirol gut integriert und erhielt nach dem negativen Bescheid massive Unterstützung aus der Bevölkerung. Mit einem Lichtermeer, dem sich Politiker jeglicher Couleurs anschlossen, wurde Solidarität zum Ausdruck gebracht. Daran, dass die gesamte Familie nun nach Dagestan zurückkehren muss, konnte es jedoch nichts ändern. Herr Kurz, Sie brüsten sich mit der Schließung der Westbalkanroute und schweigen, wenn es zu inhumaner Behandlung von Flüchtlingen geht. Für die Lienzer Flüchtlingsfamilie Magomedov, für die iranisch-armenische Familie in Vorarlberg fühlen Sie sich nicht zuständig. Dabei sprechen Sie immer gerne vom Rechtsstaat, der unabhängig von der Politik Entscheidungen trifft – wie es in einer Demokratie auch sein sollte. Dass das BFA, das sie für Abschiebungen alleinverantwortlich machen, durch das Innenministerium weisungsgebunden ist, hört man von Ihrer Seite allerdings nie. In welcher Demokratie, Herr Kurz, leben Sie, in der es als gerecht gilt, wenn Familien zerrissen werden und in ein Land zurückgeschoben werden, in dem sie nicht wissen, ob es eine Zukunft geben wird? Herr Bundeskanzler, Sie haben etwas, was nicht viele Menschen haben. Sie besitzen Macht. Was Sie mit dieser Macht tun, liegt bei Ihnen. Fragen Sie sich deshalb bitte nur eines: Sind Sie in der Politik, um im Amt zu bleiben oder um Veränderung zu bringen, wie es auf Ihren türkisen Wahlplakaten stand? Denn in der Politik sollte es nicht darum gehen, seinen Wählern nachzugehen. Gehen Sie Ihnen mit einer Vision voraus. Mit freundlichen Grüßen, Miriam Ressi  
Miriam Ressi stammt aus Osttirol und studiert in Wien Politikwissenschaft. Im Sommer absolvierte sie das New Media Bootcamp von dolomitenstadt.at und schreibt seither auch gelegentlich als freie Autorin für uns.

3 Postings

Churchill
vor 6 Jahren

Richtiger und mutiger Brief! Aber gerade als PoWi-Studierende sollte die Autorin wissen, dass es in der Politik längst nicht mehr um Ideale, sondern lediglich um Macht geht. Politiker sind in einer globalisierten Welt doch allenfalls die Marionetten der Großindustrie und der Weltwirtschaft mit nichts weiter als mikroskopischem Handlungsspielraum.

 
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baur.peter
vor 6 Jahren

wie hoch müßte den die migration sein, um unser umlagesystem zu stabilisieren? auf eine antwort wäre ich gespannt. dazu die begleiterscheinungen, wohnungsmarkt, regionale verfügbarkeit, lohndumping,...

 
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Koal
vor 6 Jahren

Bravo Miriam ! - Wahre und zugleich traurige Worte die die heutige politische "Unzeit" widerspiegeln. Ehrliche & menschliche Politik ist leider passe ... es wird von allen Seiten nur mehr an der Schraube der Gewinnoptimierung gedreht. Koste es was es wolle ..... um möglichst hohe Boni zu erreichen. Die Politiker leben's uns vor .... Eigennutz durch Ellbogenpolitik !

 
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