Was macht eine Ansiedlung zum Dorf, zu einem sozialen Organismus, der lebendig und vor allem lebenswert ist? Die Antwort auf diese Frage kennt jeder, der in einem Dorf lebt. Es ist dieser ganz spezielle Gemeinschaftssinn, der zugleich Nachbarschaft und Heimat konstituiert, dieses Gefühl selbstverständlichen Zusammenhalts, das es in Städten nur ganz selten gibt und das man vor allem dann spürt, wenn eine Sache nur gemeinsam erledigt werden kann. Ob es das Löschen eines Brandes ist, oder der Aufmarsch der Musikkapelle, ein Begräbnis oder eine Hochzeit – es ist der Zusammenhalt, der die Kraft des Dorfes letztlich ausmacht und der ein paar Institutionen braucht, die als Klebstoff für dieses Wir-Gefühl fungieren.
Womit wir beim Wirtshaus wären. Stirbt der Wirt, dann stirbt das Dorf – klingt überspitzt, ist es aber nicht. Gemeinsamkeit braucht geeignete öffentliche Orte des Zusammenkommens und der Dorfwirt ist so ein Ort, an dem man isst, trinkt, lacht, spielt, singt, trauert, feiert und vor allem miteinander redet. Gibt es kein Wirtshaus, verstummt das Dorfleben – im wahrsten Sinn des Wortes.
Genau vor diesem tristen Szenario standen die Bewohner der 1000-Seelen-Gemeinde Riefensberg im Bregenzerwald. Der Ort liegt nur gut 30 Autominuten von Bregenz oder Dornbirn entfernt – und ist doch entlegen. Das liegt an einer regionalwirtschaftlichen Spezialität Vorarlbergs. Das Bundesland ist praktisch in zwei Entwicklungszonen geteilt. Da ist einerseits der Ballungsraum Rheintal und Walgau, der mit den benachbarten deutschen und Schweizer Regionen am Bodenseeufer eine pulsierende Metropolregion mit hoher Wirtschaftskraft und 353 Einwohnern pro Quadratkilometer bildet. Gleich angrenzend liegt die „Regio-V“, zu der auch der Bregenzerwald und eben Riefensberg gehört. Hier im Alpenvorland leben in Seitentälern und auf topografisch benachteiligten Flächen nur 43 Einwohner pro Quadratkilometer.
Der Sog der Metropolregion macht den Dörfern in dieser Ecke zu schaffen. Riefensberg zählt zu den wenigen Gemeinden, die zwar nicht schrumpfen – unter anderem weil die Gemeinde Grundreserven angelegt hat, die zu günstigen Preisen an junge Gemeindebürger verkauft werden – aber doch Druck auf ihre Infrastruktur spüren. 2011 schien die Situation zu eskalieren. Das Café Grabherr – zentraler Treffpunkt im Ort – sperrte zu. Der Eigentümer wollte verkaufen, fand aber keinen Käufer. Was dann geschah, ist mittlerweile legendär, weit über den Bregenzerwald hinaus. Die Dorfbewohner von Riefensberg nahmen die Sache selbst in die Hand, angetrieben von einer Handvoll Aktivisten, unter ihnen Richard Bilgeri: „Ab 2012 suchte eine Projektgruppe nach Lösungen, im Jänner 2014 haben wir die Genossenschaft gegründet.“
Wenn keiner unser Gasthaus kauft, dann kaufen wir es eben selbst, dachten Bilgeri und seine Mitstreiter. Man wollte den Kauf aus Eigenmitteln finanzieren und lud die Gemeindebürger ein, sich an einer Genossenschaft zu beteiligen. Mit einem überwältigenden Ergebnis. Bilgeri: „130 Mitglieder haben 300.000 Euro eingebracht, das sind nur Riefensberger Privatleute.“ Als bei den ersten betriebswirtschaftlichen Kalkulationen klar wurde, dass es für das eingesetzte Geld wohl keine Zinsen geben werde, riefen die Initiatoren alle Genossenschafter zusammen und teilten ihnen mit, dass mit Gewinnen nicht zu rechnen sei. „Das hat niemanden gekümmert“, lacht Bilgeri, „die einzige Frage war: wann kaufen wir endlich das Gasthaus?“
Gesagt, getan. Mit Förderungen brachte man schließlich in Summe mehr als 600.000 Euro auf, genug um das Café Grabherr zu erwerben und in sechs Monaten mit 4.000 Arbeitsstunden von mehr als hundert freiwilligen Helfern in ein echtes Schmuckstück zu verwandeln. Auch ein neuer Namen fand sich: „Bartle – Üser Wirtshus“. Auf der professionell wirkenden Website kann man die Philosophie nachlesen: ehrliche, regionale Gastlichkeit.
Nun sind Kauf und Renovierung eines Lokals eine Sache. Aber kann man so ein Dorfgasthaus auch wirtschaftlich führen? Man kann, jedenfalls in Riefensberg. „Wir haben fünf Personen angestellt, aber nach wie vor wird Vieles in Eigenleistung erbracht, zum Beispiel werden alle Kuchen selbst gebacken“, erzählt Richard Bilgeri und auch Peter Steurer von der Regionalentwicklung Vorarlberg sieht diese Qualität: „Das Besondere am Projekt 'Bartle' ist die immense Bürgerbeteiligung in freiwilliger Arbeitsleistung und zur Verfügung gestelltem Bürgerkapital. Die Projektakteure brannten und brennen für das Projekt. Wichtig ist auch, dass das neue Gasthaus von der Bevölkerung als ihr Gasthaus gesehen wird und dadurch viel mehr an Unterstützung in jeglicher Form erfährt, als wenn es von einem externen Pächter betrieben würde. So ist eine konstante Weiterentwicklung sichergestellt.“
Steurer ist mitverantwortlich für die Gesamtentwicklung in der Regio-V, die mit Leaderförderung das Projekt „Lebendige Dörfer“ umsetzt. Die Schwerpunkte der Strategie sind zum einen regionale Wirtschaftskreisläufe, zweitens die Erhaltung von lokalem Natur- und Kulturgut – etwa die alte Bausubstanz in den Dörfern – und zu guter Letzt die Schaffung von guten Rahmenbedingungen für eine Zuwanderung von Facharbeitern und jungen Familien.
In Riefensberg gibt es neben dem Bartle noch ein weiteres Vorzeigeprojekt, nämlich Vorarlbergs einzige verbliebene Juppenwerkstatt, in der die traditionelle Juppe gefertigt wird, eine besonders edle und originale Tracht. Natürlich sperrt das Bartle auch extra auf, wenn zum Beispiel ein Touristenbus bei der Juppenwerkstatt angekündigt ist. „Da muss man flexibel sein“, erklärt Richard Bilgeri und zeichnet auch gleich ein Zukunftsszenario für das genossenschaftliche Gasthaus: „Heute hätten wir kein Problem mehr, einen Pächter zu finden. Wir haben nur keine Lust dazu. Jetzt suchen wir einen jungen Menschen – im Idealfall aus dem Ort – der das Gasthaus kaufen will. Das ginge ganz ohne Eigenkapital!“
Ein verlockendes Angebot. Wer sich beim Bartle ins Zeug legt, könnte mit einem Teil der Erträge einfach von den Genossenschaftern Anteile zurückkaufen, so lange, bis ihm – oder ihr – das Gasthaus gehört. Erste Interessenten gibt es offenbar schon und man darf sich aus Riefensberg noch einiges an dörflichem Weitblick erwarten. Nachahmung erlaubt!
„Neue Wege“ ist eine Kurzserie auf dolomitenstadt.at im Rahmen des Prozesses „Vordenken für Osttirol“. Bis zum Herbst 2018 zeigen wir anhand von ausgewählten Beispielen aus ganz Österreich, wie durch verschiedene Modelle der Bürgerbeteiligung regionale Problemstellungen auf innovative Art gelöst werden. Abwanderungsstopp, Bildung, Digitalisierung, Wertschöpfung, soziale Integration – Ziele, die auch in Osttirol angesteuert werden, sind andernorts manchmal schon erreicht. Wir nehmen diese Lösungen unter die Lupe, recherchieren Hintergründe und bieten damit Anregungen für Bürgerprojekte vor Ort.
Das Bartle – üser Wirtshus im Bregenzerwald
Ein ganz besonderes Dorfgasthaus betreiben die Bürger der kleinen Gemeinde Riefensberg.
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