Nach hundert Tagen sind die Meinungen zur Performance der türkis-blauen Regierung in Österreich geteilt. Laurenz Ennser-Jedenastik lehrt und forscht am Institut für Staatswissenschaften in Wien. Er rät zu unaufgeregter Beobachtung und Bewertung. Im Interview mit Dolomitenstadt erklärt er, wo man die Messlatte anlegen sollte.
Die österreichische Bundesregierung ist jetzt rund 100 Tage im Amt. Worin unterscheidet sie sich von ihrer Vorgängerin?
Es gibt inhaltliche Unterschiede. Man sieht, dass sie im Bereich Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Wirtschaftspolitik die Politik ein Stück nach rechts rückt. Es geht in die Richtung, Sozialleistungen zurückzufahren oder bestimmten Gruppen zuzuschieben. Dann wird es noch im Bereich Zuwanderung und Asyl, auch in der Bildung, Verschiebungen geben. Das ist auch klar, man wählt, es gibt eine andere Regierung und die macht eine andere Politik. Am deutlichsten ist das bisher im Bereich Sozialpolitik.
Ist auch der Stil ein anderer?
Es gibt jetzt natürlich eine größere Geschlossenheit von einer Regierung, die sich gerade neu formiert hat, im Vergleich zu einer Regierung, die schon länger im Amt war und wo sich die Personen auch nicht so wahnsinnig gut leiden können. Und wo auch die beiden Parteien, die an der Regierung beteiligt waren, größere ideologische Unterschiede hatten. Ansonsten soll man das glaube ich nicht überbewerten. Die Politik, die sie machen, ist entscheidend. Ob die jetzt mehr oder weniger streiten, ist eigentlich zweitrangig und jetzt auch noch schwer zu vergleichen, weil sie noch sehr kurz im Amt sind.
Ein Thema, wo es Meinungsverschiedenheiten gegeben hat, war bei der geplanten Abschaffung der Notstandshilfe. Da hört man oft, dass die FPÖ mit Kürzungen im Sozialbereich ihre eigenen Wähler treffen würde. Stimmt das?
Es stimmt, dass FPÖ-WählerInnen im Schnitt verglichen mit den von anderen Parteien ein niedrigeres formales Bildungsniveau haben. Tendenziell sind Leute mit geringerem formalen Bildungsniveau, also Pflichtschulabschluss oder Lehre/Berufsschule, unter FPÖ-Wählern überrepräsentiert. Man muss aber noch Folgendes mitdenken: Erstens ist das Risiko, dass man arbeitslos wird, für Leute mit Lehrabschluss und Berufsschule nicht wahnsinnig viel höher als für Leute, die Matura oder ein Studium haben. Die wirklich hohe Arbeitslosigkeit gibt es unter Leuten mit nur Pflichtschulabschluss. Dort sind auch FPÖ-WählerInnen überrepräsentiert, aber unter denen gibt es auch viele zum Beispiel mit Migrationshintergrund, die nicht FPÖ wählen oder gar nicht wählen dürfen. Außerdem ist es so, dass nach den Umfragedaten FPÖ-WählerInnen im Schnitt eine skeptischere Haltung zu Personen haben, die arbeitslos sind. Insofern glaube ich nicht, dass es eine Maßnahme ist, die der FPÖ-Wählerschaft überdurchschnittlich schaden würde. Es kann aber sein, dass die FPÖ-Spitze das so wahrnimmt. Oder dass sie befürchtet, dass ihr die Symbolik, beim „kleinen Mann“ zu kürzen, schadet.
Kann man etwas darüber sagen, wer von den beiden Regierungsparteien sich bei den Positionen im Regierungsprogramm und bei den Posten stärker durchgesetzt hat?
Die inhaltlichen Positionen sind schwer aufzusummieren. Man kann natürlich sagen, beim Rauchverbot hat sich die FPÖ durchgesetzt und bei der direkten Demokratie die ÖVP, aber dann ist immer die Frage: Ist das beides jetzt gleich viel wert? Ich glaube, ein Vorteil dieser beiden Parteien ist, dass sie bei wenigen Punkten inhaltlich wirklich weit voneinander weg sind. In den Bereichen Zuwanderung, Bildung, Arbeitsmarkt gibt es doch relativ große Überschneidungen. Mit vielem von dem, was im Regierungsabkommen steht, können beide Parteien und deren Anhänger ziemlich gut leben.
Auch bei den Posten kommt es darauf an, was man für die wichtigen Ministerien hält. Die FPÖ ist auf jeden Fall nicht schlechter ausgestiegen mit dem Innen-, Außen- und Sozialministerium. Wobei man sagen kann, dass das zwar wichtige Ressorts sind, aber auch welche, wo es schnell mal Konflikte geben kann. Die Sozialministerin war mit ihrer ersten problematischen Äußerung zum Arbeitslosengeld in der Öffentlichkeit, der Innenminister ist jetzt in der Kritik wegen der BVT-Angelegenheit.
Womit lässt sich erklären, dass der Vizekanzler Heinz-Christian Strache keines dieser großen Ministerien übernommen hat?
Der Vizekanzler ist ja in der Regierung für die Koordination zuständig, außerdem für die Außenwirkung seiner Partei. So einer Person noch ein Riesen-Ressort umzuhängen, das nur für sich schon mehr als ein Full-Time-Job ist, hat sich in der Vergangenheit glaube ich einfach als Überlastung erwiesen, die dann die anderen Aufgaben beeinträchtigt. Ich halte es für eine vernünftige Aufgabenteilung, dass die mit den großen Ressorts nicht noch für viele andere Dinge zuständig sind.
Migration ist seit langem ein beherrschendes Thema in der Innenpolitik und wohl auch mitverantwortlich für die Wahlsiege der beiden Regierungsparteien bei der letzten Wahl. Jetzt sinken die Zuwanderungszahlen. Wird das trotzdem ein Thema bleiben?
Ich glaube ja. Die Bedeutung dieses Themas kann man fast nicht überschätzen. Wir haben es schon länger mit einer Rekonfiguration der europäischen politischen Systeme zu tun, wo eine Konfliktdimension immer mehr an Bedeutung gewinnt, in der Zuwanderung eine große Rolle spielt. Die traditionellen ökonomischen Konflikte werden ergänzt durch kulturelle Konfliktfelder. Das ist am besten als eine Globalisierungskonfliktlinie wahrzunehmen. Da geht es darum, wie sehr nationale Grenzen noch Hürden sein sollen, etwa für den Verkehr von Gütern, Personen, Kapital oder Dienstleistungen. Das wird zum dominierenden politischen Konflikt unserer Generation und wird uns wahrscheinlich noch Jahrzehnte begleiten, auch wenn die Zuwanderung zurückgehen sollte. Außerdem ist es so, dass Zuwanderung kein Politikbereich ist, der für sich isoliert steht, sondern der spielt in andere Bereiche wie Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Bildung oder Sicherheit hinein.
Welche Entwicklungen lohnt es sich im Auge zu behalten, wenn man die Perfomance der Regierung beobachten will?
Erstens einfach mal schauen, was sie tun und was sie an Reformen zustande bringen, und mit kühlem Kopf bewerten, was da passiert. Zweitens beobachten, wie sie mit den Beschränkungen umgehen, der jede Regierungsmacht in einer Demokratie unterliegt. Da gibt es einerseits das Europarecht. Da ist es relativ eindeutig, dass die familienpolitischen Vorhaben der Regierung europarechtlich wahrscheinlich nicht haltbar sind, auch wenn das erst ausjudiziert werden muss. Und wir sehen, dass der Verfassungsgerichtshof die Bestimmungen zur Mindestsicherung in Niederösterreich aufgehoben hat, die Vorbild für die Regierung waren. Also es gibt das Verfassungsrecht und das Europarecht als Grenzen für Regierungshandeln. Die Frage ist, wie geht man mit solchen Grenzen um? Für die Leute, die sich Sorgen machen wegen der Regierungsbeteiligung einer rechtspopulistischen Partei und nach Ungarn oder Polen blicken, gilt es zu beobachten, wie die Regierung mit der unabhängigen Justiz, der Demonstrationsfreiheit, der Medienfreiheit oder der organisierten Zivilgesellschaft umgeht. Und natürlich kann man die Regierung immer an dem messen, was sie versprochen hat.
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