Heute ist der Osten des Landes (oder was davon übrig ist) die wohlhabendste Gegend Boliviens. In der „Agrar-Reform“ von 1953 wurde offiziell im gesamten Land das System der „Haciendas“, der Großgrundbesitzer, abgeschafft, und die Ländereien wurden unter den Bauern, die das Land bearbeiteten, verteilt. Wer näher hinsieht, erfährt, dass diese „Revolution“ nur in einigen Teilen des Landes stattfand. Im Osten des Landes wurden die Großgrundbesitzer legitime Eigentümer ausgedehnter Ländereien. Es war nämlich nicht das Ziel der Reform, eine gerechte Verteilung von Ländereien zu schaffen, sondern die Produktivität der Landwirtschaft zu erhöhen. Und dazu benötigte das Land, laut der Regierung, doch noch einige Großgrundbesitzer, die im großen Stil Nahrungsmittel für Bolivien produzieren sollten.
Heute sind die Großbauern in der Region von Santa Cruz die reichsten Bauern Boliviens. Ab und zu werden kritische Stimmen laut, die anprangern, dass diese Bauern Arbeiter in sklavenähnlichen Bedingungen beschäftigen, aber diese Stimmen werden schnell von der mächtigsten Landwirtschaftskammer des Landes zum Schweigen gebracht. Heute werden in Santa Cruz hauptsächlich industrielle landwirtschaftliche Produkte wie Baumwolle und Soya angebaut, die exportiert werden.
Eigentlich machte ich mich deswegen auf nach Santa Cruz – um mit den Großgrundbesitzern zu sprechen, die riesige Rinderherden besitzen und nebenbei noch ein paar tausend Hühner industriell züchten, und die eng verbandelt mit den Produzenten von Soya und Mais sind. Ich sprach auch mit diesen Menschen, doch am Ende machte ich eine andere hochinteressante Erfahrung: Ich bekam einen Einblick in das Leben der oberen Mittelklasse von Santa Cruz.
In Santa Cruz wohnten wir bei einem Freund meines Mannes, der Betriebsleiter in einer Schokoladenfabrik ist. Er wollte uns die Stadt zeigen. Also nahm er uns am Samstag dazu mit, Neuwagen zu besichtigen. Er will einen Kredit aufnehmen, um seiner Frau ein neues Auto zu kaufen. Sein drittes Auto. Danach kauften wir einen „Chai Latte“ im neu eröffneten Starbucks, und wir nahmen den Chai natürlich „To Go“ mit. Den Chai Latte in einer Hand, einen Teil der Aufmerksamkeit auf das nagelneue Handy gerichtet, chauffierte uns der Freund an den neuen Einkaufszentren von Santa Cruz vorbei. Dort treffen sich die jungen Leute am Wochenende und trinken ihren kolumbianischen Kaffee oder chillen im Hard Rock Cafe.
Am Samstagabend lud uns die Familie des Onkels meines Mannes, einem Arzt, zu einem besonderen Abendessen ein. Wir trafen uns im Restaurant „Tapekua“, dessen Name aus der indigenen Sprache Guaraní stammt. Die High Society von Santa Cruz gibt sich dort ein Stelldichein. Da saßen wir, zwischen blond gefärbten Frauen in High Heels und mit einer Speisekarte mit einer Liste auf Französisch benannter Speisen. Die Wände im Tapekua sind mit indigenen Webereien und Masken geschmückt. Und bald betrat die Bühne ein Mann aus dem Hochland, in dessen Gesichtszügen sich deutlich seine indigenen Wurzeln widerspiegelten. Er stimmte traditionelle bolivianische Lieder an, und dann sang seine Nichte, natürlich blond gefärbt, ein Lied in der Ursprache Quechua.
Ich bin verwirrt. Was will die obere Mittelklasse von Santa Cruz? Sie lebt ein durch und durch auf Konsum ausgerichtetes Leben. Doch in diesem Konsumismus geht es nicht nur darum, Geld auszugeben. Es geht diesen Menschen darum, zu zeigen, dass sie eine westliche Bildung und Kultur besitzen, die es ihnen ermöglichen, Produkte zu konsumieren, die (ihrer Meinung nach) in der westlichen Kultur von Wert sind. Deswegen gibt es auf den Fiestas der Mittelklasse teuren Wein, importierten Käse und Schweizer Schokolade.
Die Mittelklasse hat aber auch eine nationale, bolivianische Identität. So werden zum Beispiel typisch bolivianische Gerichte (die eine Mischung aus Spanischer und indigener Küche sind) geschätzt – aber in einer stilisierten Form. Man kann traditionelle Gerichte bei der Köchin um die Ecke essen, aber das ist laut der Mittelklasse nicht „hygienisch“. Wenn die Mittelklasse traditionell speisen will, dann trifft sie sich in einem Lokal, in dem das Gericht zehnmal mehr kostet als im Lokal um die Ecke. Es wird konsumiert, aber in einem Ambiente, das auf Hochglanz poliert ist und in dem ein Heer von weiß gekleideten Kellnern serviert. In diesem Umfeld ist indigene Kultur – so glaube ich – zur Folklore stilisiert, als hübsche Wandteppiche und als Volksmusik. Die Bettler, die es in einfacheren Restaurants noch schaffen, bettelnd von Tisch zu Tisch zu gehen, werden hier brutal an der Türe abgewiesen.
So ist die Scheinwelt der oberen Mittelklasse von Santa Cruz. Mich stößt diese Welt ab. Die Menschen wollen mich mit ihren „europäischen Werten“ beeindrucken, doch ich gehöre einer neuen Generation von Europäern an, die das westliche Konsumverhalten kritisch hinterfragt. Ja, man könnte sagen, ich bin Teil der „Mode der Nachhaltigkeit“. Ich bin sicher, dass diese Mode auch die bolivianische Mittelklasse erreichen wird. Und ich bin mir nicht sicher, ob das eine positive Entwicklung ist. Denn jede Mode ist nur Schein. Und außerdem haben die Bolivianer im eigenen Land einen Reichtum an indigenem Gedankengut, der im Begriff ist, vergessen zu werden, auch in der urbanisierten indigenen Bevölkerung. Dieses indigene Gedankengut zeigt einen Weg hin zu einem ökologisch und sozial verträglichen Lebensstil auf. Die Menschen in Bolivien begehen meiner Meinung nach einen großen Fehler, wenn sie diese indigene Kultur nur in ihrer folkloristisch stilisierten Form wahrnehmen.
---- Sarah Kollnig, geboren 1984, Nußdorferin, studierte Umweltwissenschaften. Nach einigen Jahren Berufserfahrung arbeitet sie als Doktorandin an der Universität Lund in Schweden. Ihr Fachgebiet ist die Humanökologie. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit sozialen Ungleichheiten und Nachhaltigkeit im bolivianischen Ernährungssystem. Derzeit lebt sie für ein Jahr Feldforschung in Cochabamba, Bolivien. Alle Artikel von Sarah Kollnig.
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