Ihr Dolo Plus Vorteil:
Diesen Artikel jetzt anhören

Sisyphos am Berg

Betrachtungen über den Alpinismus von Lisi Steurer

„Das Ringen um den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Albert Camus

Die Meilensteine in der „Eroberung des Nutzlosen“, wie der französische Alpinist Lionel Terray das Bergsteigen einst bezeichnete, wurden in den Lienzer Dolomiten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gesetzt. 1905 wurde die „Alpenraute“ gegründet, ein Verein, der maßgeblich an der Weiterentwicklung des Alpinismus in Lienz beteiligt war. Kurz nach der Gründung gesellte sich Rudl Eller zu dem erlauchten Kreis der Alpenrautler. Gesegnet mit einem exzellenten Gespür für Routenfindung und außergewöhnlicher Körperbeherrschung gelangen Eller schwierige Erstbesteigungen in den Lienzer und Sextener Dolomiten, ein Großteil davon seilfrei. Er krönte seine alpinistischen Leistungen 1919 mit der Durchsteigung des Keilspitz Westpfeilers - eine unglaublich schwere Route, wenn man die Ausrüstung der damaligen Zeit in Betracht zieht.

In den 1950er Jahren kam die große Zeit von Toni Eger, jung, draufgängerisch und gesegnet mit viel Talent zum Klettern. Egger und seine Kollegen gelangen schwierige Erstbegehungen in den Lienzer und Sextener Dolomiten. Mit 33 Jahren versuchte Egger gemeinsam mit dem großen italienischen Bergsteiger Cesare Maestri den 3.128 Meter hohen Cerro Torre in Patagonien zu besteigen. Doch das Wetter schlug um, Egger kam beim Rückzug vom Berg im Schneesturm ums Leben und blieb viele Jahre verschollen. Sein Tod in Patagonien war ein Schock, machte Toni Egger aber noch Jahre später zu einer Gallionsfigur für die heimische Kletterszene.

Toni Egger 1957, Südamerika. Foto: Alpenraute Lienz
Rudl Eller, der Pionier der Lienzer Dolomiten. Foto: Alpenraute Lienz

SCHLAG NACH BEI CAMUS

Spätestens hier stellt sich die Frage: Was treibt Menschen, damals wie heute, auf die Gipfel? Warum setzten sie sich bewusst bedrohlichen Situationen am Berg aus? Auf der Suche nach dem Sinn des Bergsteigens hilft Albert Camus, einer der bedeutesten Schriftsteller und Philosophen des 20. Jahrhunderts. Camus erinnert uns an Sisyphos, den unermüdlichen Helden der griechischen Mythologie. Für den Philosophen befindet sich der Mensch stets im Spannungsverhältnis zwischen Sinnwidrigkeit und Sinnsuche. Sisyphos versuchte Zeit seines Lebens einen riesigen Stein auf einen Hügel zu rollen. Kurz bevor er oben ankommt, rollt der Stein wieder nach unten und die Arbeit beginnt von Neuem. Diese „Sisyphus-Arbeit“ wurde sprichwörtlich. „Das Ringen um den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schreibt Camus und antwortet auf die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens: „Der Sinn des Bergsteigens - ist das Absurde daran.“ 1979, 20 Jahre nach Toni Eggers Tod, startete die erste Osttiroler Himalaya-Expedition der Alpenraute. Ziel des achtköpfigen Teams mit Sepp Mayerl, Heinz Thonhauser, Willi Bernard jun., Hermann Neumair, Herbert Obernosterer, Oswald Gassler, Albert Fellinger und Sigi Girstmair war die Besteigung des 7.650 Meter hohen „Fang“ im nepalesischen Annapurna Gebiet. Der Fang war noch unbestiegen und stand zwar im Schatten der 8.091 Meter hohen Annapurna I, galt jedoch als technisch sehr anspruchsvoll. Die Expedition endete 1979 vorzeitig mit dem tragischen Tod von Herbert Obernosterer.

Schon ein Jahr später startete das selbe Team einen neuen Versuch - der gelang. Den Gipfelsieg habe man unter anderem Hermann Neumair zu verdanken, erzählte Sepp Mayerl. Die Leistung der Osttiroler bei der Besteigung des Fang würde heute wohl für den Piolet d'Or - den Oscar der Bergsteiger - nominiert. Hohe technische Schwierigkeiten auf einer Höhe von knapp 8.000 Metern, in einem fairen Stil.

Herbert Zambra am Gipfel der Gamswiesenspitze. Foto: visualimpact.ch/Rainer Eder

SISYPHOS IN PATAGONIEN

Was 1959 mit Toni Eggers Tod am Cerro Torre in Patagonien begann, setzten Osttiroler Bergsteiger bis in die Neuzeit fort. Toni Ponholzer kommt dabei dem Bild von Sisyphos besonders nahe. Mit wechselnden Kletterpartnern versuchte er immer wieder, Eggers Route am Cerro Torre zu schaffen. Mit dem starken Hubener Franz „Steiger“ Niederegger gelang Ponholzer ein bedeutender Versuch, aber das Ziel blieb unerreicht. 1992 waren Hannes Wallensteiner und Gery Unterasinger dann die ersten Osttiroler auf dem Gipfel des Cerro Torre. Sie brauchten nur einen Tag für die „Kompressor-Route“, die Cesare Maestri 1970 mit massivem technischen Aufwand eingerichtet hatte. Seine Erstbesteigung von 1959 mit Egger wurde stark angezweifelt, weil mit Egger auch die Kamera mit den Beweisbildern verschollen war. Die „Kompressor-Route“ sorgte für viel Diskussionsstoff, bis zwei Amerikaner im Jänner 2012 der Geschichte ein Ende bereiteten. Hayden Kennedy und Jason Kruk entfernten die 300 Bohrhaken aus der Gipfelwand des Cerro Torre. Nun war diese Wand wie in den Fünfzigern nur mehr ohne technische Hilfe zu bezwingen. Wie es der Zufall so haben wollte, trat wieder ein Osttiroler zu dieser Aufgabe an: Peter „Luner“ Ortner gelang 2011 gemeinsam mit David Lama nur wenige Tage nach dem Entfernen der strittigen Bohrhaken die erste freie Begehung des Cerro Torre. Die beiden jungen Kletterer gingen damit in die Annalen des Freikletterns ein.

Franz Rienzner und Fred Unterluggauer klettern die Blasl-Variante an der Laserz Westkante. Foto: visualimpact.ch / Rainer Eder

DIE ACHTZIGER: THINK PINK!

Nach diesen Ausflügen in die Weltberge wird es Zeit, in die Lienzer Dolomiten zurückzukehren. Mit der technischen Weiterentwicklung in den 1980er Jahren hielt das Sportklettern und damit der Freiklettergedanke in Osttirol Einzug. Die ersten Klettergärten am Kreithof und nahe der Dolomitenhütte entstanden. Die noch kleine Szene kletterte mit umso mehr Leidenschaft: Leo Baumgartner, Gerhard Forcher, Bernhard Rienzner, Günther Gruber, Markus Huber … um nur einige zu nennen. Sowohl Sportklettern im Klettergarten, als auch Klettern im alpinen Ambiente war nun angesagt. Einer, der beides auf hohem Niveau betrieb, war der Leisacher Michl Egger. Michl, ein herausragender Kenner des Spitzkofel Massivs, kletterte einen Großteil der Routen, die er damals als Erster beging, seilfrei und oft auch alleine. „Nachdem ich merkte, dass es dort ohnehin nicht viele Möglichkeiten gab Sicherungen anzubringen, bin ich halt ohne Seil geklettert. Wenn man ein Gespür für eine logische Linienführung hat, kommt man schon rauf. Rund um die Karlsbader Hütte versuchten zeitgleich Hannes Wallensteiner und Toni Ponholzer - wir kennen die beiden schon aus Patagonien, das Schwierigkeitsklettern voranzutreiben. Die Linien bestechen heute noch durch ihre Steilheit und teilweise auch durch ihre kühne Absicherung. Herbert Zambra und Robert Mair waren zu der Zeit ebenfalls als Seilschaft aktiv und kreierten 1985 den „Che Guevara Crack“ in der Laserz Nordwand. Der Namen spricht Bände. Die Kletterer beschäftigten sich nun auch mit gesellschaftlichen und politischen Themen. Die Szene versuchte aus dem Korsett gesellschaftlicher Zwänge auszubrechen und Klettern wurde zur Lebensphilosophie. Stark beeinflusst von der Post-1968er Zeit wurde das Klettern zum Gegenpol der immer stärker werdenden Konsum- und Sicherheitsgesellschaft. Nun waren es nicht nur mehr die Gipfelsiege, sondern auch der Lebensstil, den das Klettern ausmacht.

Der sagenumwobene Cerro Torre (3.128m) in Patagonien, Südamerika. Foto: Vitto Messini

BERGSTEIGEN ALS SUCHE NACH DEM SINN

Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl (1905-1997) ist der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse und war bis ins hohe Alter aktiver Bergsteiger. Für Frankl besteht der Sinn des Bergsteigens durch das Streben nach individuellen Zielen. Er sieht das Bergsteigen als Sinnsuche und den Berggipfel symbolisch als Mahnmal gegen die Antriebslosigkeit einer satten Gesellschaft. Die Sinnsuche im Alpinismus erfolgt laut Frankl nicht, wie bei anderen Sportarten, im Wettkampf, sondern duch das Streben nach individuellen Zielen. „Der Kampfsport kennt Konkurrenten und Rivalen, aber der Alpinist konkuriert nur mit einem - und das ist er selbst.“

Wie sieht es mit den Osttiroler Bergsteigern heute aus? Um diese Frage zu beantworten, bitte ich den Unterpeischlacher Bergführer und Alpinist Vittorio „Vitto“ Messini um ein Statement. Er beschreibt seine Aktivitäten und die seiner Iseltaler Freunde. „WirWir haben in letzter Zeit einige Felslinien in Osttirol erschlossen. Zum Beispiel in Prägraten, in der Seewand am Tristacher See, in Nikolsdorf und am Falkenstein bei Matrei. Im November 2010 ist Mathias Wurzer mit seinem Kollegen Charly Fritzer nach Patagonien gereist, die beiden konnten drei Gipfel, Fitz Roy, Cerro Torre und Aguglia St. Exupery erklimmen. 2013 reiste Isidor Poppeller mit mir nach Patagonien und seine Hartnäckigkeit wurde mit einem unglaublichen 'Wetterfenster' von zweieinhalb fast ununterbrochen schönen Wochen belohnt. Die Gipfel des Massivs und die abschließende, krönende Besteigung des Torre Egger zählt zu unseren bisherigen bergsteigerischen Höhepunkten.“ Die Osttiroler Bergsteiger-Szene ist also damals wie heute aktiv und stets auf der Suche nach Herausforderungen. Neben Vitto und seinen Freunden gibt es noch eine Reihe mittlerweile auch international bekannter Akteure. Mario Walder zum Beispiel, ein gebürtiger Villgrater, ist regelmäßig mit Thomas und Alexander Huber, den “Huaba Buam“, unterwegs. In den vergangenen Jahren gelangen ihm beachtliche Erstbegehungen, sowohl in den Lienzer Dolomiten als auch – wie könnte es anders sein – in Patagonien. Einer der international bekanntesten Osttiroler Kletterer ist Peter Ortner.

„Der Kampfsport kennt Konkurrenten und Rivalen, aber der Alpinist konkurriert nur mit einem - und das ist er selbst.“

Viktor Frankl

Peter und sein Partner David Lama leisten derzeit Großartiges, Sommer wie Winter und fast immer in einem minimalen, nachhaltigen Stil, sei es in Patagonien, Pakistan oder auch in den heimischen Bergen. Die beiden zählen derzeit zur Spitze der Profibergsteiger weltweit. Und last but not least: Andy Holzer. Der „Blind Climber“ tourt seit 2010 höchst erfolgreich als Profibergsteiger durch aller Herren Länder und auch durch zahlreiche Vortragssäle, wo er einer großen Fangemeinde von seinen Abenteuern berichtet.

Foto: visualimpact.ch / Rainer Eder

BERGSTEIGEN ALS BERUF UND TRENDSPORT

Bergsteigen wandelte sich in den letzten Jahren also vom Sisyphos Mythos zum „Sensation Seeking - Produkt“. Das heißt, die Bedeutung des Bergsteigens ist stark durch die (neuen) Medien geprägt. Der Beruf des Profibergsteigers wurde vermutlich von Reinhold Messner „erfunden“ und hat heute so viele Anhänger wie noch nie.

Mediale Berichterstattung von den Leistungen am Berg gehören ebenso zum Alltag, wie die Expeditionsberichte, die  direkt vom Basislager per Satellit in die Welt gepostet werden. Es darf heute keine Zeit mehr verloren gehen. Szenemagazine, Filme und mediale Berichterstattung über Alpinismus boomen wie noch nie. Das Karussell der Vermarktung dreht sich und wir alle drehen uns mit.

QUO VADIS ALPINISMUS?

Wie beantworten wir also heute die Frage nach dem Sinn des Bergsteigens? Nicht nur in Osttirol, sondern weltweit wird intensiv darüber diskutiert, auch vor ganz neuen Hintergründen, wie etwa den Themen Nachhaltigkeit, Globalisierung und sozialer Verantwortung.

Sind die Ansätze von Camus und Frankl noch gültig oder werden gerade neue Maxime erfunden? Auf einige Fragen müssen wir Antworten finden:

Was passiert, wenn das Bergsteigen zu einer reinen Form der sportlichen Leistung ohne Ethik wird? Was bedeuteten Seilschaften im Spannungsfeld der Medien in Zukunft noch? Wie sieht der Umgang mit dem Berg und den Menschen aus, wenn Erfolg und Vermarktung an oberster Stelle stehen? Und natürlich, last but not least: Warum gehen die Menschen heute und in Zukunft noch in die Berge?

"Schneller, höher weiter": Der Künstler Felix Tschurtschenthaler beschäftigt sich mit dem Thema "Bergsteigen im 21. Jahrhundert".

Vielleicht wird es wieder Zeit, dass wir BergsteigerInnen uns mit den philosophischen Fragen auseinandersetzen, bevor wir neue Wege beschreiten.

Der große Walter Bonatti bringt es auf den Punkt: „Nicht höher im Sinn von Bekanntheit, die kümmert mich nicht, sondern im Sinn eines inneren Wachsens! Leben heißt ständiges Wachsen auf dem Sockel der Pyramide aller Erfahrungen und Werte, die wir unterwegs gewonnen haben.“

Die Osttiroler Berg & Skiführerin Lisi Steurer hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Lisi arbeitet auf der ganzen Welt, führt nicht nur Menschen in die Berge, sondern veranstaltet auch Events und zählt zu den Botschaftern einer neuen Bergsportkultur. Für dolomitenstadt.at schreibt sie ab und zu Artikel zu ihrem Lieblingsthema: Berg.

Keine Postings

Ein Posting verfassen

Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren