Lebensqualität ist schwer zu messen. Was braucht der Mensch zum Glücklichsein? Wenn es ein wilder Garten ist, eine Hängematte, ein Stiegenhaus in dem es Neuigkeiten zu erfahren gibt und eine Wohnung, die sich auch kleine Leute leisten können, dann ist die Südtiroler-Siedlung ein Ort, an dem sich nicht schlecht leben lässt.
Vor zwei Jahren sollte die Südtiroler-Siedlung dem Erdboden gleichgemacht werden. Jetzt will die „Neue Heimat“ die Häuser doch sanieren und damit auch ein Stück Stadtgeschichte erhalten. Wir haben uns auf Spurensuche in einen Lienzer Stadtteil begeben, der in keinem Touristenführer vorkommt und dennoch sehens- und lebenswert ist. Für manchen Bürger anderer Stadtteile ist "die Siedlung" so unbekannt ist, als wäre sie auf einem anderen Kontinent. Und wenn man's genau nimmt, ist vieles an dieser Wohnanlage auch wirklich anders. Schon die Geschichte des Areals ist ungewöhnlich.
1939 „optierten“ viele Südtiroler – von den Nazis motiviert – für eine Auswanderung (Details auf Seite 29) und in der Folge entstanden auch in Lienz die charakteristischen aneinandergereihten Häuser an Straßen, die nach Südtiroler Kriegshelden benannt sind: Haspinger, Speckbacher, Innerkofler. Beeindruckende 240 Wohnungen schlichten sich in den Langbauten aneinander, mit einigen architektonischen Besonderheiten, die heute nicht mehr denkbar wären. „Da schauen beispielsweise die Hälfte der Wohnungen nach Norden“, erzählt Architekt Reinhard Madritsch, der sich vor zwei Jahren an einem Wettbewerb beteiligte, den die „Neue Heimat Tirol“ als genossenschaftlicher Eigentümer ein wenig unterschwellig ausgeschrieben hatte.
Zwar fand im Pfarrsaal der Familienkirche – eine „Landmark“ im Viertel – eine Infoveranstaltung statt, aber irgendwie wollte wohl niemand so recht daran glauben, dass „die Siedlung“ tatsächlich abgerissen werden könnte. 240 Wohnungen schleifen und die Bewohner ab- bzw. umsiedeln, neue Häuser bauen, mit mehr Gebäudedichte und sicher höheren Mieten? Politisch wäre das schwer zu stemmen gewesen, speziell für eine rote Bürgermeisterin, deren Stammklientel in dieser Ecke wohnt. Das zeigt ein Blick auf die Sprengelergebnisse bei der Bürgermeisterwahl. Der Süden ist rot, aber auch für die Schwarzen interessant. Viele der Wohnungen in diesem Quartier werden vom Wohnungsausschuss der Stadt vergeben. Gemeindewohnungen sind politische Manövriermasse, nicht nur in Lienz.
„Ich hab mich gewundert, wie ruhig die Leute bei der Präsentation geblieben sind“, erinnert sich Peter Jungmann, der neben Reinhard Madritsch und dem Innsbrucker Architektenbüro Triendl ebenfalls ein Projekt für den Um- und Neubau präsentierte. Die Aufregung wäre auch umsonst gewesen, die Neue Heimat Tirol – die die Südtiroler-Siedlung von der Neuen Heimat Kärnten kaufte – legte die Abrisspläne nämlich mittlerweile ad acta und will jetzt ab 2014 mit der Sanierung beginnen.
„Günstige Altbauwohnungen werden gebraucht“, gibt sich Klaus Lugger, Geschäftsführer von Tirols größtem Hausverwalter geläutert. „In Jenbach haben wir zum Beispiel teilweise abgerissen“, erzählt Lugger, der die Neue Heimat Tirol gemeinsam mit dem ehemaligen LHStv. Hannes Gschwentner führt. Die Vorgangsweise sei unterschiedlich. Tausende Wohnungen hat die Genossenschaft unter den Nazis gebaut, heute stehen sie auf teuren Innenstadtgründen, die man natürlich besser verwerten könnte. Doch in Lienz bleiben die Bewohner am Ort. Sie bekommen eine bessere Wärmedämmung, leere Wohnungen werden auch innen optimiert, freilich nur bis zu einer Investitionssumme, die dem Niedrig-Mietzins angepasst ist. Der Mietpreis sollte ja nicht wesentlich steigen. So bleibt die ehemalige Optantensiedlung, was sie mittlerweile längst nicht nur für die langjährigen Bewohner ist: ein Refugium mit ganz eigenem Charme, mit Wohnbedingungen, die in vielem nicht der Papierform moderner Wohnhausarchitektur entsprechen und in Summe aber doch eine Qualität ergeben, von der andere „Wohnblocks“ oft nur träumen.
„Ein Wohnzimmer nach Norden wäre heute unverkäuflich“ erklärt Madritsch, und eine Wohnung ohne Balkon in unseren Breiten auch. Aber wo Schatten ist, ist auch Licht: „Dafür sind die Freiräume zwischen den Häusern spektakulär für heutige Verhältnisse. Die Bebauungsdichte ist niedrig, die Gartenzonen sehr breit. Weil viele Bewohner keinen Balkon haben, gehen sie an schönen Tagen in den Garten, dadurch entsteht eine andere soziale Situation, es gibt Kommunikation, eine eigene Gartenkultur.“ Früher dienten die Eigengärten der Selbstversorgung mit Kartoffeln, Bohnen, Kohlrabi und Karotten. Heute setzen die Südtiroler-Siedler eher auf den Rasen mit Hupfburg oder Grillstation, aber auch das muss erst einmal jemand haben, den Schrebergarten vor der Haustüre sozusagen, noch dazu mitten in der Stadt und zu Mietpreisen, die auch für einkommensschwächere Schichten leistbar sind.
Für die Architekten Madritsch und Jungmann ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Sie hatten, im Gegensatz zum Nordtiroler Mitbewerber, beim Wettbewerb auf „sanfte“ Lösungen für das Areal gesetzt, Madritsch wollte sogar bestehende Substanz mit neuen Qualitäten versehen. Jetzt entwickeln beide gemeinsam Ideen, wie man mit kreativen, aber nicht unbedingt einschneidenden Maßnahmen die Siedlung so aufwerten könnte, dass zum Beispiel auch barrierefreie Wohneinheiten entstehen: „Die meisten Bewohner sind alt. Wenn die nicht mehr gehen oder Stiegen steigen können, wird's kritisch“, erklärt Madritsch und Jungmann denkt über die Möglichkeiten von Dachboden-Ausbauten nach. „Viele Dachböden sind in diesen Häusern ja unverbaut und wurden eigentlich zum Aufhängen der Wäsche im Winter genutzt. Es gibt bereits Projekte, wo diese Räume als Wohnräume adaptiert wurden und damit zusätzliche Qualitäten entstanden.“ Die Häuser um ein Geschoß aufzustocken war auch schon Thema im Wettbewerb, man hätte damit zusätzlichen Wohnraum ohne Absiedlung schaffen können. Diese Idee kommt den Architekten mittlerweile nicht mehr so gut vor: „Wenn die Häuser höher sind, werfen sie längere Schatten und das ist ein Nachteil für die Nachbarn vis a vis.“ Freiraum wird eben groß geschrieben in der Südtiroler-Siedlung, die an manchen Tagen eine ganz eigene Poesie entwickelt. Fotografin Ramona Waldner hat sie für uns eingefangen. Und eine Geschichte über die Südtiroler Siedlung wäre nicht vollständig, wenn nicht auch die angrenzende „Friedensiedlung“ darin vorkommen würde. Nein, das ist nicht dasselbe! Im Gegenteil.
„Früher war die Weidengasse buchstäblich eine Demarkationslinie“ erinnert sich Reinhard Madritsch, der in dieser Ecke aufgewachsen ist. „Die Friedensiedlung war ein völlig eigenes Revier, dessen Grenze wir als Kinder und Jugendliche nur selten überschritten haben.“ Ein Friedensiedler sieht das heute noch ähnlich und hat uns als Locationscout durch seine Wohnwelt begleitet.
Rapper Rin, der soeben sein zweites Album fertiggestellt hat, kommt aus der wesentlich dichter und auch um Jahrzehnte später gebauten Friedensiedlung, die mit der Nachbarschaft jenseits der Weidengasse eines gemeinsam hat: wer hier nicht wohnt, kommt selten hierher und empfindet die Welt rund um das Oh-Er-Café am Brixnerplatz fast wie das Leben in einer anderen Stadt. Dabei wohnen immerhin Lienzerinnen und Lienzer im „alten Süden“, dessen Lebensqualität in Summe locker mithalten kann mit den neuen Wohnzonen, die zwar Komfort bieten aber eines oft verloren haben: den Freiraum.
Aloisia Ceklan …
… feierte zufällig genau an dem Tag ihren Siebziger, als Dolomitenstadt-Fotografin Ramona Waldner durch die Siedlung spazierte. Wir gratulieren herzlich! Aloisia lebt seit 17 Jahren in einer Parterrewohnung in der Mühlangergasse und hat eine Leidenschaft: Blumen. Nicht nur in ihrem kleinen Garten blüht es den ganzen Sommer, ihre Blumentöpfe stehen auch vor dem Haus und auf den Stiegen.
Die Selbstversorgung …
… ist nicht mehr Thema in den Gärten der Siedlung. Wo früher Kartoffeln, Kohlrabi, Salat und Erdbeeren angepflanzt wurden, dominieren heute eher Hupfburg und Grillstation. Doch auch das ist eine Qualität, die man erst einmal in einer der modernen Wohnsiedlungen finden muss. Wer hat schon den Schrebergarten vor der Haustüre und auch noch mitten in der Stadt?
Originales und Originelles …
… wächst in sozialen Biotopen, in denen auch schräge Charaktere gedeihen und überleben können. In der Südtiroler-Siedlung ist Erwin Kollreider so ein Unikat, einer von jenen Bewohnern, die hier nicht unbedingt ein bürgerliches Leben führen. Wie denn auch, wenn man von seinen Nachbarn „Jesus“ genannt wird. Kollreider kümmert sich ab und an als eine Art Hausmeister um Kleinkram in der Siedlung. Wenn er Zeit und Lust hat.
Der Süden …
… hat in Lienz viele Gesichter mit unterschiedlichen städtebaulichen Qualitäten. Ganz im Hintergrund sind die Kräne der jüngsten Wohnbauoffensive zu erkennen. Noch ist viel Platz in Richtung Amlach und Tristach. Auch der Unterschied zwischen der jüngeren Friedensiedlung im Vordergrund und der in den frühen Vierzigern gebauten Südtiroler-Siedlung ist augenscheinlich. Die langen Bauten am Fuß der Kirche stammen aus einer Zeit, in der genügen Platz und „Verdichtung“ deshalb kein Thema war.
„Die Optanten“
In seinem Buch „Osttirol – vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart“ beschreibt der Lienzer Historiker Martin Kofler, wie die Südtiroler-Siedlung entstand. Nachdem Hitler sich mit Mussolini über die Brennergrenze geeinigt hatte, sollten die deutschsprachigen Südtiroler bis Dezember 1939 entscheiden, ob sie ihre Heimat verlassen und ins „Reich“ ziehen oder im faschistischen Italien bleiben wollten. Druck und Versprechungen bewogen 75.000 Südtiroler zur Übersiedlung. 1939 wurde die „Neue Heimat“ gegründet und in typischer Kriegsbauweise tausende Wohnungen für die „Optanten“ aus dem Erdboden gestampft.
Im Kreis Lienz entstanden zwischen 1940 und 1942 insgesamt 54 Häuser mit 236 Wohneinheiten. Vor allem Grödner sollten sich auf dem Mühlanger, den die Kärntner „Neue Heimat“ erworben hatte, ansiedeln. Ein Viertel der Häuser waren für Einheimische bestimmt. Aber die Wohnungen waren viel zu klein für Holzschnitzer-Werkstätten, die Grödner zogen in die Steiermark und nach Kärnten weiter, wurden aber von der Nazipropaganda dennoch ausgeschlachtet.
Lienz wuchs in diesen Jahren um 2.000 Menschen auf rund 8.800 Einwohner an.
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