Es gibt Schätze, die in Vergessenheit geraten. Vielleicht, weil sie nicht schön anzusehen sind. Vielleicht, weil die Erinnerung an sie zu sehr schmerzt. Vielleicht, weil zu vergessen mehr Gewinn verspricht, als ein Erbe anzutreten, das mit Blut und Leiden zu tun hat. Von solch einem Schatz will ich erzählen, von einem, der in den Bergen liegt, auf einem schmalen Grat.
Im Reich eines damals gerade mittelalten Kaisers lagen ein paar Täler im Westen seines Landes, umrahmt von hohen Bergen, im Norden Tauern, im Süden Dolomiten. Dorthin kamen Reisende nur, wenn sie unbedingt mussten oder weil warmes Wasser ihnen Heilung versprach oder weil sie auf Pilgerfahrt waren. Sie verweilten nie lange, denn die Schönheit der Gegend hatte für sie wenig Wert. Der Weg dorthin war beschwerlich und mühsam, die Berge zu hoch, die Winter so kalt wie die Betten der Wirtshäuser, die Speisen karg und die Sprache unverständlich.
Eines Tages kam der mittelalte Kaiser auf die Idee, eine Bahn zu bauen, damit seine Soldaten schneller von Osten nach Westen und in den Süden kamen. Wenig später fuhr die Eisenbahn durch das südlichste Tal, vorbei an den Tälern im Norden, die auch eine Bahn wollten und sogar schon Bahnhöfe bauten, ohne dass jemals ein Zug dort halten sollte. Mit der Bahn kamen Fremde ins Land. Schon vorher hatten Inselbewohner mit unverständlicher Sprache die Berge für sich entdeckt, waren übers Meer gekommen und auf Gipfel gestiegen und mit Holzbrettern über den Schnee gerutscht und hatten den würzigen Duft der Almwiesen gepriesen. „Marvellous“ sagten sie. „He wasche wo“, sagten die Einheimischen. Weil die Bewohner des alten Kaiserreichs den Inselmenschen nacheiferten, reisten nun auch sie in die Berge und fanden auch alles ganz wunderbar. Plötzlich waren ihnen die Berge nicht mehr zu hoch, die Sommer nicht zu kalt und das Essen nicht zu karg.
Fürsten kamen aus dem Kaiserreich, Prinzen und Prinzessinnen aus fernen Ländern. Maler und Musiker reisten an, Dichter schrieben Oden über Berg, Baum und Magd. Reiche Bürger, die sich in dem imperialen Glanz sonnen wollten, lernten die Vorzüge kerniger Kellnerinnen zu schätzen, hoben Humpen und sangen laut Lieder, während Damen sich gegen die Höhensonne abschirmten, um ihre noble Blässe zu bewahren. Nur die Geistlichen waren wenig angetan von dem, was sie sahen. Sie geißelten den Fremdenverkehr, nannten ihn unzüchtig, besonders den mit jenen, deren Glauben älter war als der der Geistlichen. Von Kanzeln hörte man nichts Fremdenfreundliches.
So sehr viele den Predigten Glauben schenkten, so lehnten sie die Fremden nicht rundweg ab, sondern hießen sie gegen Entgelt willkommen. Die Fremden ließen sich mit Bergsteigerausrüstung fotografieren und schickten Postkarten aus Bad Weitlanbrunn und aus dem Wildbad Neuprags. Sie blieben monatelang, mit Familie und Angestellten und Hofstaat. Bergführer stiegen nun mit den Fremden auf die Gipfel, wo die Fremden Hütten bauen ließen und sie nach sich oder ihrer Heimatstadt benannten. Noch heute werden Berge nach den Fremden benannt. Heute heißt einer wie eine Wurst, doch das ist eine andere Geschichte.
Die Bewohner der Täler zwischen Tauern und Dolomiten beobachteten, was im Westen des südlichsten Tals geschah, ohne daran viel teilhaben zu können. Denn die einzige Stadt der Gegend war den Fremden wohl zu heiß, die Berge im Norden zu mühselig zu erreichen und die Betten in Wirtshäusern zu hart und zu kalt. Doch einige sagten: „Fremdenverkehr, der hat Potenzial!“, und so bauten sie Hotels und gründeten Ortsverschönerungsvereine und schüttelten den Fremden die Betten auf. Langsam aber doch blieben die Fremden nicht nur zur Durchreise. Und gerade als sie immer länger und länger blieben, war die Freude darüber auch schon wieder vorbei. Denn vor genau 100 Jahren, im Südosten des alten Kaiserreichs, wurde nämlich der Thronfolger des mittlerweile uralten Kaisers ermordet. Weil der Thronfolger keinen Krieg wollte, wie manche zu Recht sagen. Weil es dann doch welche gab, die Krieg wollten, wurde das, was schnell vorbei hätte sein sollen, zu einem der schlimmsten Teile der Geschichte.
Die Söhne der Bauern wurden von den Feldern weggeholt, die Bergführer von den Bergen, und man machte „Fußvolk“ aus ihnen. Die Feldherren schickten sie mit der Bahn statt in den Süden in den Osten, während auf den Feldern die Ernte verkam. Die meisten kamen nicht zurück und wenn doch, dann hatten sie viel eingebüßt: Arme, Beine, Augenlicht und oft den Glauben an das Gute im Menschen. Die Fremden hatten jetzt Sorgen, die nicht mit Schatten und bleichen Bergen und kernigen Kellnerinnen zu beheben waren. Und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, kam das junge Königreich im Süden auf die Idee, sich mit dem alten Kaiser anzulegen.
Vor 99 Jahren, bevor die Soldaten, die mit der Bahn in den Osten gefahren waren, wieder zurückkommen konnten, kam der Krieg auch über die bleichen Berge. Alte Männer und kleine Buben mussten auf Männer schießen, die so wie sie Sepp und Hans hießen, nur eben in einer anderen Sprache. Viele Menschen starben. Man sprengte sich die Berge unter Hintern weg und noch mehr Menschen starben.
Zwischen den Trümmern der Gipfel blich die Sonne Knochen aus, und Schnee und Regen ließen Stahlhelme und Stacheldraht rosten. Man stieg nicht mehr aus Lust am Weitblick in die Höhen, sondern schleppte Kanonen ins Eis, schlug Stollen in den Fels und setzte Dornenkronen auf die Gipfel. Färbte vorher nur die Sonne die Gipfel rot, tränkte jetzt das Blut Tausender die Steine. Irgendwann starb der alte Kaiser. Ein neuer kam, aber das half auch nichts. Am Ende waren viele tot, eine Grenze kam, die Familien zerriss, die denen im Westen für lange Zeit die eigene Sprache nahm und Menschen einander fremd werden ließ. Trotz Verkehr. Die Bahn fuhr noch. Aber sie zu benutzen, war keine rechte Freude mehr.
Später passierten noch viele schlimme Sachen: ein weiterer Weltenbrand, der aus der Glut des ersten entstand, in dem Fremde sich noch fremder wurden, und das alte Land westlich unserer Täler noch einmal mehr zerrissen wurde. Zerrissen von den Versprechen zweier Führer, die sagten, sie sprächen für ihr Volk. Selten wurde mehr gelogen. Mit den Menschen des alten Glaubens geschah das, was sich manche gewünscht hatten und von Kanzeln gepredigt worden war. Auch daran wollten viele sich nicht erinnern. Weder an den ersten Weltenbrand noch an den zweiten und bald wurde gesagt, das sei doch alles Geschichte. Doch im Westen des alten Landes erinnerte man sich, auch gegen viele Widerstände.
Die Menschen bauten Museen, sammelten Tagebücher und nutzten die alten Straßen der Soldaten und man sprach nach langer, mühsamer Zeit zwei Sprachen. Die Kinder und Kindeskinder derer, die in den knochenbleichen Bergen aufeinander geschossen, die mit- und aneinander gelitten, die gestorben waren, fragten nach. Sie erinnerten sich und fuhren Ski und stiegen auf Berge und verstanden sich. Nicht sofort. Bis jetzt noch immer nicht bestens, aber so gut wie möglich, über alle Sprachgrenzen hinweg.
In den östlichen Tälern schaute man zu, ein weiteres Mal, wie sich das so entwickelte im Westen des Landes, jenseits der Grenze. Manchen fielen Unterschiede auf: Wurden im Westen zwei Sprachen gesprochen, begnügte sich der Osten mit einer. Kamen im Westen die Fremden wieder, sagte man im Osten, die im Norden müssten dafür sorgen, dass das auch so werde. Erinnerten sich die im Westen an den Krieg, überließen die, die so taten, als regierten sie die östlichen Täler, das anderen.
Doch einige wollten sich erinnern, darunter die Nachfahren derer, die ihre Heimat verteidigten, und die, die oft auf Berge gehen, weil dadurch ihr Horizont weit wird. Sie kamen auf die Idee, auch sie könnten sich und den Gästen zeigen, wo und wie das alles passiert ist, und dass das besser so nicht wieder passieren sollte. Sie erinnerten sich an einen eigenartigen Schatz. Er liegt auf einer Bergkante. Ihn zu heben ist eine Gratwanderung, ein Grenzgang. Die sich erinnern, nennen ihn den Friedensweg. Er liegt an der Grenze zum Süden. Ein alter Frontabschnitt, an dem es möglich ist, Stellung zu unserer Geschichte zu beziehen. Dieser eigenartige, blutige und fast vergessene Schatz wäre wert, gehoben zu werden.
Wer sich seiner nicht erinnert, läuft Gefahr, ihm auf andere Weise wieder zu begegnen. Kein Schatz der Kaiser oder Könige, Führer oder Herrscher, sondern der Menschen, die ihn sehen wollen. Sie dürfen ihn nur nicht vergessen, sonst geht er verloren. Was eine andere, traurige Geschichte wäre, die ich nicht erzählen möchte.
Mit herzlichem Dank an alle, die mir das Erinnern erleichtert haben, darunter Dr. Martin Kofler vom TAP und Hans-Günter Richardi, Zeitungsarchiv Prags, für Literatur und Beratung.
Literaturempfehlung: „Volldampf / Die Pustertalbahn 1869 – 1918“, Haymonverlag, ISBN 978 -3-7099-7105-5; „Die Wirtin – Das Leben der Emma Hellensteiner“, ISBN 978-88-904989-6-1.
Keine Postings
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren