Die alte Garde hatte noch keinen medizinisch getesteten Power-Riegel im Rucksack, sondern drei Hauswürstel, eine Tafel Schokolade und einen Pfefferminztee in der Thermoskanne. Heute gleicht die Spur im Schnee auf manchen Bergen einer Wallfahrtsstrecke für Jünger der Körperkult-Sekte. Dicht an dicht kämpfen sie sich nach oben, ganz wie im wirklichen Leben und von beeindruckenden Technologien unterstützt. Im modernen Tourensport „atmet“ das Leiberl, damit dessen Träger umso hemmungsloser schwitzen kann. Die Skier sind aus Weltraum-Legierungen und wer auf den Hüften ein paar Deka zuviel hat, kompensiert das mit einer Bindung aus Leichtmetall. Kostet halt! Tourengehen boomt und ist Techno, aber am Ende steigst du doch selbst den Berg hoch und Osttirol ist ein Eldorado für alle, die genau das zu ihrer winterlichen Passion gemacht haben. Wirklich lustvolles Tourengehen braucht ein paar Rahmenbedingungen, die nicht jede Destination bietet. Berge sowieso, aber auch schöne Routen, nicht nur für die Besten im Pulver, sondern auch für „Otto Normalverbraucher“. Und da trennt sich schnell die Spreu vom Weizen.
Wer im tiefen Schnee zu Hause ist und sicher am Berg, der kann sowieso abseits der Karawane gehen, kann allein mit sich und dem Yeti durch Traumlandschaften spuren. Während dem Pistentourer die Skihaserln beim Wechseln des Thermoleiberls auf den Bauchansatz starren, ist der Hochtourengeher mit den Schneehühnern allein und hat seine liebe Ruhe, ganz zu schweigen von unverspurtem Pulver oder gleisendem Firn bei der Abfahrt. Das ist der Gipfel des Winterglücks!
Allerdings muss man für die Hochtour schon einer von den eher Guten sein, sonst kann's bei schwierigen Wetterlagen und Geländepassagen auch einmal gefährlich werden. Also bleiben wir Normalsterblichen lieber dort, wo die hochalpine Zivilisation noch nicht ganz zu Ende ist. Für diese Spezies hat Lienz ein paar Schmankerltouren anzubieten. Wenige Minuten vom Stadtzentrum entfernt tragen dich die Felle schon durch den Winterwald. Zum Beispiel auf der Schattseitner Klassikroute zur „Dolo“, sprich Dolomitenhütte, wo bekanntlich ein duftendes Pfandl voll Kasspatzln oder zarte Rippen vom Schwein als Belohnung warten. Dann wäre da noch der „Russensteig“, der zwar selten von Angehörigen dieser stolzen Nation bestiegen wird, aber trotzdem durch eine Winterlandschaft führt, die der sibirischen Taiga zur Ehre gereichen würde.
Pelzmäntel sieht man jedenfalls keine, wenn man je nach konditionellem Befinden bei Schloss Bruck oder der Moosalm zur Wanderung durch den Winterwald aufbricht und schließlich über der Baumgrenze dort ankommt, wo die Aussicht zum 360-Grad-Panorama wird: auf der Hochsteinhütte. Vorteil für Tourenski-Warmduscher: die Abfahrt ist perfekt präpariert und – wir Einheimischen wissen es – trotz Hochstein-Palaver und Osttirodler-Gezänk noch immer die coolste Downhill-Piste weit und breit. Es geht natürlich auch Hardcore, beim Laserzlauf oder dem an Kultfaktor ebenbürtigen Nachtlauf „Hinter'm Kofel“, wo die Elite der heimischen Amateursportler und -sportlerinnen scheinbar mühelos im Profitempo nach oben hirscht und wieder herunterbraust, dass einem Angst und Bange werden könnte.
Sie alle, die Profis mit Amateurstatus, die Russenwegwanderer und Pisten-Touringathleten haben aber eine Liebe gemeinsam: das Goisele. Wie das schon klingt! Goisele. Es klingt nach etwas Kleinem, nach der Koseform von Goas (= Ziege) oder Goisara (= grober Schuh) oder nach einem Lockruf für Weidetiere: „Goisele, Goisele“. Und so verlockend wie es klingt, ist es auch, das Goisele. Es ist ein kleiner Gipfel, einer, vor dem man nicht Angst haben muss. Das Goisele ist ein echter Höhepunkt, mit allem, was dazu gehört. Sogar ein Kreuz ist da! Und die Aussicht auf das, was die Dolomitenstadtler immer wieder rührt – die eigene Stadt, ganz weit unten, aber doch irgendwie nahe. Egal was du unten tust, hier bist du der König, die Königin des Universums.
Da trinkst du dein Isostar und hast das Gefühl, dass du ein Eroberer bist und sowieso ein Auserwählter. Du fühlst dich wie Hermann Maier auf dem Weg zum Südpol, aber du weißt, mit ein paar Schwüngen bin ich wieder in der Zivilisation und in ein paar Minuten unter der eigenen Dusche. Oft wird es dieses beglückende vis à vis von Stadt und Berg nicht geben. Hier auf dem kleinen Goiselegipfel kumuliert das Lebensgefühl der Dolomitenstädter. „Wenn das die Touristen wüssten“ murmelt man beim Abreißen der Felle. „Psssst! Touristen? Bisch narrisch. Die hätten uns hier heroben gerade noch gefehlt!“ Und dann geht's hinunter über den sanften Hangrücken zum Pepo oder zur Maria auf einen Tee.
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