Ausgerüstet mit meiner Spiegelreflex-Kamera und einem 180mm-Telemakro-Objektiv mache ich mich geländebereit und parke nach nur wenigen Minuten Anfahrt unweit des Parkhotels. Linkerhand lasse ich den Tristacher See, an dem sich im Sommer die Badeurlauber tummeln, ungeachtet liegen, um nach nur wenigen Minuten Gehzeit ein Osttiroler Naturjuwel erster Güte zu erreichen: den „Alten See“.
Dieses seit 1977 als Naturdenkmal ausgewiesene Kleinod wird im Text der im Internet einsehbaren Schutzgebietsbeschreibung treffend wie folgt charakterisiert: „Am Fuß der Tristacher Seewand liegt der Alte See, das eigentliche Quellgebiet des Tristacher Sees (Badesee). Beide Gewässer sind über den Ausrinn des Alten Sees verbunden. Der Alte See ist vom östlich gelegenen Seehotel auf einem Fußweg in wenigen Minuten erreichbar. Er liegt auf 830 Meter Seehöhe und ist ca. 140 x 50 Meter groß. Zahlreiche Seggenpolster bilden mehrere kleine Inseln. An seiner Westseite liegt ein ausgedehntes Verlandungsmoor mit Schwingrasen. Dieses Moor hat laut Österreichischem Moorschutzkatalog nationale Bedeutung. Der Uferbereich des Alten Sees weist eine überaus reiche Vegetation mit mehr als 70 Arten von Blütenpflanzen und zwei seltenen Schachtelhalmarten (Equisetum) auf. Im angrenzenden Wald findet man eine vielfältige Gehölzflora; der pflanzliche Artenreichtum dieses Gebietes ist durch den Wechsel der Gesteine im Untergrund (Muschelkalk, Tonschiefer, Konglomerate und Gneise) bedingt.“
Bereits am Ostufer des Sees angelangt, wo sich im zeitigen Frühjahr Erdkröten beim Ablaichen beobachten lassen, sehe ich mit einer im Flug vorbeizischenden Mosaikjungfer ein erstes „Objekt der Begierde“ – und wieder bin ich verblüfft von der Geschwindigkeit und der Wendigkeit dieses kontrastreich gefärbten Fluginsekts.
Wenig später gelingt es mir, diese Großlibelle sogar sitzend auf einem Holzast abzulichten und als Torf-Mosaikjungfer (Aeshna juncea) eindeutig anzusprechen. Vor allem im Herbst und damit gegen Ende der Libellensaison werden selbst solche „Dauerflieger“ unter den Libellen ruhiger und lassen sich an sonnenexponierten Stellen nieder, um Kraft für die letzten Flüge im Jahr zu tanken. Denn der erste Frost lässt wohl nicht mehr lang auf sich warten und dann wird es ruhig am Alten See, wenn das Insektenleben „scheinbar“ erlischt. Scheinbar deshalb, weil die Aktivität, zumindest was die Libellen anbelangt, unter der Wasseroberfläche weitergeht: dort leben nämlich die räuberischen Larven der Libellen, die je nach Art bis zu fünf Jahre im Wasser verweilen, ehe sie am Ufer wieder an Stängeln hochklettern und zu den nur für wenige Wochen flugfähigen Adulttieren (Imagines) schlüpfen.
Libellen sind überaus eindrucksvolle, farbenfrohe Insekten, die mit einigen verblüffenden Details aufwarten können. So zählen sie erdgeschichtlich zu den ältesten Insektengruppen, deren Vorfahren bereits aus dem oberen Karbon, also seit rund 350 Mio. Jahren bekannt sind. Aufgrund ihres erstaunlichen Flugapparates können sie im Flug bis zu 50 km/h erreichen, wobei die Frequenz des Flügelschlages dabei mit etwa 30 Schlägen pro Sekunde relativ langsam ist. Auffällig am Körperbau sind zudem die beiden großen Facettenaugen, die bei einigen Arten aus bis zu 30.000 Einzelaugen bestehen können. Libellen sind an das Wasser gebundene Organismen und nur jagend abseits von Gewässern anzutreffen.
Etliche Arten sind ökologisch anspruchsvoll und kommen nur in sauberen Gewässern mit spezieller Ufer-Struktur vor. Aus diesem Grund gelten Libellen als wichtige Zeiger für den Zustand unserer Gewässer. Wie auch andere geflügelte Insekten sind sie zudem ausgesprochene Sonnentiere, die bei bewölkter Witterung oder Regen kaum zu beobachten sind. Viele Arten zeigen zudem ein ausgesprochenes Revierverhalten und bekämpfen ungewünschte Eindringlinge und Artgenossen. Bei meinem Rundgang um den Alten See brauche ich mich allerdings nicht vor Libellen zu fürchten: Alle Arten sind – ganz entgegen manch landläufiger Meinung – für den Menschen völlig harmlos, weder stechen sie, noch sind sie giftig!
Im Sommer und auch noch im Frühherbst sind am Alten See besonders viele Libellen beim Liebesspiel anzutreffen. Männchen und Weibchen, die mitunter verschieden gefärbt sein können, bilden dabei sogenannte „Paarungsräder“ – eine innige und sogar erstaunlich gut flugfähige Umklammerung der beiden Partner. Heute habe ich es unter anderem auf die Paarung des Großen Blaupfeiles (Orthethrum cancellatum) abgesehen, weil sogenannte „Indigenatsnachweise“ dieser Großlibelle bislang kaum für Osttirol dokumentiert sind.
Der Nachweis des Indigenats einer Libelle, d.h. ihrer Bodenständigkeit in einem bestimmten Gebiet, lässt sich vor allem durch die Beobachtung von Paarungen, Eiablagen oder leeren Larvenhäuten als Relikte des Libellenschlupfs erbringen. Leider gehe ich an diesem Tag leer aus, aber immerhin habe ich im vorigen Sommer am Alten See bereits ein Paarungsrad des Großen Blaupfeiles erspäht.
Am Südufer entdecke ich anstatt dessen ein Männchen der Blutroten Heidelibelle (Sympetrum sanguineum), eine in Osttirol seltene und später im Jahr fliegende Art. Wenige Meter davon entfernt legt ein schon etwas „abgeflogenes“ Weibchen einer Braunen Mosaikjungfer (Aeshna grandis) – nur auf einem kleinen frei schwimmenden Algenfetzen nahe am Ufer sitzend – ihre Eier in den Schlamm ab. Sie taucht dabei den Hinterleib tief in das Wasser und entlässt die nächste Genera-tion ihrem weiteren Schicksal.
Zwei Stunden später – nach mehreren Runden um den See – kehre ich mit einer reichen Fotoausbeute wieder heim, um am PC die restliche Bestimmungs- und Dokumentationsarbeit vorzunehmen. Die heimischen Libellen lassen sich nämlich weitgehend einfach anhand guter Bilder bestimmen. Auch ihre Artenvielfalt ist vergleichsweise überschaubar, denn es gibt in Österreich lediglich 77 Arten. In Tirol sind es gerade einmal 65 Arten und in Osttirol wurden bislang 43 Arten nachgewiesen. Letzteres ist insofern erstaunlich, als sich im Bezirk Lienz bis vor Kurzem nur eine Person eingehender mit den heimischen Libellen beschäftigt hat, und zwar der in Lienz wohnende Zoologe und Schuldirektor in Ruhe Alois Kofler. In seinen beiden, schon aus den 1970er und 1980er Jahren stammenden wissenschaftlichen Publikationen über die Odonatenfauna Osttirols dokumentierte Kofler für den Alten See immerhin sieben Libellenarten.
Folgende Artenliste gibt die derzeit vorkommenden Libellen des Alten Sees samt jeweiliger Flugzeit wieder:
- Wissenschaftlicher Name: Aeshna cyanea
- Deutscher Name: Blaugrüne Mosaikjungfer
- Flugzeit: Frühling-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Aeshna grandis
- Deutscher Name: Braune Mosaikjungfer
- Flugzeit: Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Aeshna juncea
- Deutscher Name: Torf-Mosaikjungfer
- Flugzeit: Sommer-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Anax imperator
- Deutscher Name: Große Königslibelle
- Flugzeit: Sommer-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Calopteryx virgo
- Deutscher Name: Blauflügel-Prachtlibelle
- Flugzeit: Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Coenagrion puella
- Deutscher Name: Hufeisen-Azurjungfer
- Flugzeit: Sommer-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Cordulia aenaea
- Deutscher Name: Falkenlibelle
- Flugzeit: Frühling
- Wissenschaftlicher Name: Ennalagma cyathigerum
- Deutscher Name: Becher-Azurjungfer
- Flugzeit: Frühling-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Libellula depressa
- Deutscher Name: Plattbauch
- Flugzeit: Frühling-Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Libellula quadrimaculata
- Deutscher Name: Vierfleck
- Flugzeit: Frühling-Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Orthetrum cancellatum
- Deutscher Name: Großer Blaupfeil
- Flugzeit: Sommer-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Platyxnemis pennipes
- Deutscher Name: Federlibelle
- Flugzeit: Frühling-Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Pyrrhosoma nymphula
- Deutscher Name: Frühe Adonislibelle
- Flugzeit: Frühling-Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Somatochlora metallica
- Deutscher Name: Glänzende Smaragdlibelle
- Flugzeit: Sommer
- Wissenschaftlicher Name: Sympetrum danae
- Deutscher Name: Schwarze Heidelibelle
- Flugzeit: Sommer-Herbst
- Wissenschaftlicher Name: Sympetrum sanguineam
- Deutscher Name: Blutrote Heidelibelle
- Flugzeit: Sommer-Herbst
Aufgrund meiner Forschungen der letzten vier Jahre sind es heute insgesamt 18 Libellenarten, die bislang in diesem kleinräumigen Gebiet nachgewiesen sind. 16 Arten kommen rezent am Alten See vor, davon sind fünf den Kleinlibellen und elf den Großlibellen zugehörig. Zwei von Kofler erwähnte Arten, nämlich die Speer-Azurjungfer (Coenagrion hastulatum) und die Östliche Moosjungfer (Leucorrhinia albifrons) konnte ich nicht mehr nachweisen – die Vorkommen dieser beiden Libellen dürften somit hier erloschen sein. Vor allem der Verlust der letztgenannten Art ist bedauerlich, handelt es sich doch um eine sehr seltene, europaweit über die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (Anhang IV) geschützte Libelle, von der es in ganz Österreich fast keine Rezentnachweise mehr gibt. Mit den 18 nachgewiesenen Arten löst der Alte See den Nörsacher Teich als bisherigen Osttiroler Libellenhotspot ab. DieserTeich an der Grenze zu Kärnten im Drautal gelegen, ist zwar ebenfalls als Naturdenkmal ausgewiesen, kann in seiner ökologischen Qualität dem Alten See aber nicht mehr „das Wasser reichen“.
Mit fast fehlender offener Wasserfläche, stark verwachsenen Ufern, reichem Vorkommen des Drüsigen Springkrautes und mit Faulschlammgeruch belastet, offenbart sich dieses im Buch „Die Libellen Tirols“ als einziges Libellenparadies gepriesene Kleingewässer heute. Während in Nörsach aus Naturschutzperspektive also akuter Handlungsbedarf herrscht, braucht man sich beim Alten See derzeit keine Gedanken zu allfälligen Pflegemaßnahmen machen. Bereits der frühere Naturschutz-Bezirksbeauftragte Alois Heinricher sprach beim Alten See von einem „schutzwürdigen Osttiroler Moor“ nicht zuletzt richtigerweise deswegen, weil „in ganz Osttirol kein weiteres Sumpfgebiet in der gleichen Höhenlage mehr besteht“. Und er fährt weiter fort: „Hier dient Naturschutz auch dem körperlichem und geistigem Wohlergehen des Menschen“. Erlebnis und Erholung in der Natur können, wie ich selbst im Zuge meiner früheren Tätigkeit als Schutzgebietsbetreuer erfahren habe, wesentliche Schlüsselfaktoren zur Akzeptanz von Schutzgebieten sein. Im Falle des Alten Sees ist die artenreiche Libellenfauna für mich jedenfalls wesentlicher Teil von Naturerlebnis und Erholung zugleich, der in mir den Entschluss aufrechterhält: „Ich komme bald wieder!“
Epilog
Wie die jüngsten Nachweise am Alten See exemplarisch zeigen, ist die Erforschung der Libellenfauna des Bezirkes Lienz noch unzureichend. Daher bitte ich um Mithilfe und lade die geschätzten Leser des Dolomitenstadt-Magazins ein, Fotos von in Osttirol gesichteten Libellen an folgende Adresse zu mailen: nago_osttirol@gmx.at. Sehr gerne werden auch Art-Bestimmungen anhand der Fotos durchgeführt – bitte, wenn möglich, Fundort und Funddatum so genau wie möglich angeben. Jeder Nachweis aus Osttirol ist wertvoll und willkommen!
Der Autor
Oliver Stöhr ist Sprecher der NAGO, der Naturkundlichen Arbeitsgemeinschaft Osttirol und arbeitet als Geschäftsführer für Biologie bei der Fa. REVITAL Integrative Naturraumplanung GmbH in Nußdorf-Debant. Neben der Erforschung der Pflanzenwelt Osttirols widmet er sich auch zoologischen Themen, insbesondere Heuschrecken oder Libellen.
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