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Alle Fotos: Miriam Raneburger

Alle Fotos: Miriam Raneburger

Der Schriftgelehrte

Martin Tiefenthaler ist Typograf und Jahrgang 1956. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Es weht ein leichter Hauch von Revolution durch Tiefenthalers Zugang zu Schrift und Sprache. Man spürt, er wurde geprägt in den Sechzigern und Siebzigern, in einer Zeit, in der alles politisch war.

Tiefenthaler ist ein „gekreuzter Måttinga" wie er selbst sagt, Sohn des aus Matrei stammenden Malers Fritz Tiefenthaler und heute wieder oft vor Ort in Osttirol. Es wohnt sich gut hier, auch wenn der Mitbegründer der „Österreichischen Typografischen Gesellschaft“ und Dozent an der „Grafischen“ in Wien zum Arbeiten ein anderes Ambiente bevorzugt. Sein Atelier hat Tiefenthaler seit Jahrzehnten in Maria Lanzendorf, nicht weit von Wien in einer ehemaligen Wirkwarenfabrik. Dort hat ihn vor einigen Wochen Dolomitenstadt-Fotografin Miriam Raneburger besucht. Und wir haben die Gelegenheit genutzt, mit einem europaweit anerkannten Experten über jene Zeichen zu reden, die unsere Kultur definieren, ohne die es weder Zivilisation noch Verständigung gäbe, ja nicht einmal Facebook. Gerade einmal 30 Buchstaben hat unser Alphabet. Was sich daraus machen lässt, ist ein Universum, in das uns Martin Tiefenthaler ein wenig eintauchen lässt.

Für Designer ist Schrift - als Zeichen, nicht als Text - ein Gestaltungsmittel. Was ist sie für den Normalbürger? Wie prägen Schriften unseren Alltag?

Das Interessante an Schrift ist, dass ihr gegenüber fast alle "Normalbürger" sind. Schrift ist in ihrer Allgegenwärtigkeit und Faktizität erstaunlich unbemerkt, oder besser gesagt, alle nehmen sie nur en passant und oberflächlich und nicht eigentlich wahr - nämlich in der Wirkung, die sie ausübt und zwar unabhängig vom Inhalt, den sie ganz offensichtlich transportiert. Ein Schild "Heute alles um 10 Prozent verbilligt" sagt eben nicht nur, dass heute alles um 10 Prozent verbilligt ist, sondern durch seine Gestaltung kann das einer Mehrheit ganz besonders günstig oder nur vernachlässigbar und ganz unwesentlich günstiger erscheinen. Diesen Effekt können Schriftwahl und Layout des Schildes hervorrufen. Aber es wird den NormalverbraucherInnen nicht bewusst, dass die Schrift und ihre Gestaltung diesen Einfluss ausüben und vor allem wie wirkmächtig sie das tun.

Das klingt jetzt paradox, aber das Problem mit Schrift ist ihre grundlegende Unauffälligkeit und eben diese gleichzeitige, unterbewusste Wirkung – und je unbewusster ein Vorgang ist, desto stärker vermag er seine Wirkung zu entfalten. Diese Wirkungen hervorzurufen und in die richtigen Bahnen zu lenken, ist Aufgabe der Typografie. Jede Gestaltung mit Schrift, die nicht handwerklich wissend durchgeführt wird, erzeugt Wirkungen, die eben nicht in der Hand der SchriftanwenderInnen liegen und somit willkürlich dem Inhalt des Geschriebenen zu- oder entgegenarbeiten.

Schriften begegnen uns als Beipacktext ganz winzig und als Schlagzeilen oder Werbebuchstaben sehr prominent. Alle Schriftschnitte, alle aus ihnen erstellten Texte, lange, kurze, sich reimende, sperrige, schreiende, lustige und traurige haben eines gemeinsam - sie wollen gelesen werden. Was trägt Typografie zur Wahrnehmung bei und was sind die Kriterien für eine „gute Schrift“?

Wir müssen sehr genau unterscheiden zwischen Schrift, die in großen Mengen gelesen werden soll (also ein langer Artikel oder ein Buch) und zwischen Schrift, deren Aufgabe es ist, Aufmerksamkeit zu erregen (z.B. Überschriften in Magazinen). Und dann noch die Übergangszonen zwischen diesen beiden, etwa bei Leitsystemen oder Wegweisern.

Entscheidend ist die Art und Weise, wie Augen und Gehirn lesen. Es werden ja nicht einzelne Buchstaben gelesen, sondern nur Wortteilmuster in einem sehr komplexen Verarbeitungsvorgang, der in den Nerven der Netzhaut beginnt, im visuellen Kortex fortgesetzt wird und dem letztendlich Bedeutung zugeordnet werden können muss.  Daraus resultieren klare Kriterien für eine gute Schrift für große Textmengen, also alles längere als eine halbe Seite. Um nur einige zu nennen: Die Abstände zwischen den unterschiedlichen Formen der Buchstaben müssen so gleichmäßig (optisch gleich groß) wie möglich wirken, die Wortabstände dürfen nicht zu groß sein (ein Faktor, der z.B. die meisten Bücher des 18. Jahrhunderts unlesbar macht) und vor allem darf kein einziger Buchstabe zu besonders oder zu einzigartig aussehen und damit herausstechen. Bei Texten die nur Aufmerksamkeit erregen wollen mag es schon genügen, wenn die Buchstaben einander nicht zu sehr ähneln (wie z.B. die Ziffer eins, das große I und das kleine l) und nicht miteinander verwechselt werden können. Schriften wie Helvetica oder Arial sind eigentlich nicht sehr lesefreundlich, aber das erschließt sich erst im Vergleich und wenn man keine besseren Schriften kennt, dann begnügt man sich halt mit ihnen.

Die vermutlich radikalste Wandlung der Schrift seit ihrer Erfindung ist ihre Digitalisierung. Mit dem Mac Plus wurde 1986 das Desktop Publishing geboren. Wohin hat sich Schrift seither entwickelt?

Die Schriftgestaltung ist gegenwärtig meiner bescheidenen Meinung nach auf einem noch höheren Niveau als zu ihrer besten Zeit um das Jahr 1500 herum. Durch die Open-Type-Technologie haben sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnet, die wunderbare Feinheiten in der Gestaltung gestatten. Vorausgesetzt natürlich, dass das Handwerk sowohl im Schriftdesign als auch in der typografischen Anwendung dieser Schriften verantwortungsvoll ausgeübt wird.

Wunderbarerweise gibt es auch mittlerweile in Österreich hervorragende SchriftgestalterInnen – das ist übrigens das erste Mal seit Erfindung des Buchdrucks. Davor haben alle Nationen mit wesentlichen Schriften aufwarten können, nur die Kulturnation Österreich nicht. Warum das so ist, kann erklärt werden, aber das würde den Rahmen hier sprengen.

Du entwirfst selbst Schriften. Eine davon haben wir als Titelschrift für diesen Artikel verwendet. Was war deine Intention beim Entwurf?

Ich bin definitiv kein Schriftgestalter, das ist ein ganz eigener Beruf und verlangt ein ganzes Leben. Ich bin nur Schriftanwender und in meiner Freizeit pfusche ich ein wenig an eigenen Schriften herum. Aber das sind alles nur Display-Schriften, eine Schrift für große Mengen Text zu entwerfen ist ganz was anderes und wie gesagt: eine eigene Profession, die auch eine spezielle Ausbildung und den kompletten Fokus verlangt. Eine gute Schrift  zu entwickeln, mit allen Schnitten und für jede Kommunikationsform geeignet (z.B. Akzente für andere Sprachen, geeignet für kleine und sehr große Anwendungen usw.), braucht weit über ein Jahr konstanter Arbeit daran.

In deinen Vorträgen betonst du immer wieder, dass Schrift auch politisch ist. Ein komplexes Thema. Kann man ganz kurz und knackig auf den Punkt bringen, wo die Gestaltung von Typografie zum politischen Statement wird?

Überall dort, wo mit bestimmten Schriftformen auch Weltbilder, sprich Ideologien, verbunden sind. Oder nehmen wir nur die Tatsache, dass in unserem Schriftsystem es möglich ist, das Wort Gott "Gott", "GOTT" oder "gott" zu schreiben. Das sind unterschiedliche Botschaften, hervorgerufen durch die Eigenheit unseres Alphabets, das uns die Möglichkeit bietet zwischen zwei Buchstabenformen für ein und den gleichen Laut wählen zu können. Im Arabischen kann man das Wort Allah nicht groß- oder kleinschreiben, das gleiche im chinesischen oder japanischen, diese Schriftsysteme haben nur eine Buchstabenform für einen Laut.  Was immer es bewirkt ist jetzt im Detail nicht so leicht festzumachen, wichtig ist allerdings, dass es einen Unterschied macht und Unterschied bedeutet automatisch Wirkung. Im Fall von Groß- und Kleinschreibung kann man beispielsweise feststellen, dass Großgeschriebenes glaubwürdiger erscheint als Kleingeschriebenes, selbst wenn beide Schreibweisen den gleichen Wortlaut haben, das ist doch schon ein deutlicher Hinweis darauf, dass nicht nur der Inhalt selbst, sondern auch die Form, in die er gebracht wurde einen Aussagewert hat.

Wenn du eine Schriftrolle gestalten müsstest, die ins Weltall geschossen wird, um ferne Galaxien über uns zu informieren, welche Schrift würdest du wählen und warum?

Burmesisch, weil das für mich eine der schönsten Schriften ist, die die Menschheit erfunden hat.

Themenwechsel. Auf deinem Xing-Profil taucht auch die Musik als Thema auf. Bist du auch Musiker? Und prägt deine grafische Arbeit den Zugang zur Musik? Noten sind schließlich auch Schrift, Zeichen mit Bedeutung, aus denen sich komplexe musikalische Sätze formulieren lassen.

Das ist jetzt sehr witzig, dass ich das gefragt werde. Denn ich kann nicht Noten lesen und alle Musik, die ich jemals mit den unterschiedlichsten Menschen gemacht habe, hat immer als gemeinsamen Nenner gehabt, dass sie ausschließlich improvisiert war. Und wenn ich improvisiert sage, dann ist damit gemeint, dass es keinerlei Absprachen egal welcher Art gibt. Ich beherrsche auch mein Instrument nicht, sondern spiele mit ihm.

Einer meiner langjährigen Musikerkollegen, Andi Chicken, sagte zweideutig über unsere Art zu musizieren "Wir spielen, was wir können", und das trifft es für mich sehr genau.

Zum Schluss noch etwas Lokalkolorit. Wie ist dein Verhältnis zu Osttirol und Matrei, wo du deine Wurzeln hast?

Ich bin sehr weitgereist, war in Summe mehrere Jahre meines Lebens in fernen und europäischen Ländern, aber die Lebensqualität in Osttirol ist unerreicht. Ich kann nur hoffen, dass der Klimawandel das nicht zu schnell zerstören wird (und mit dieser Hoffnung verbunden ist auch mein Wunsch, dass in Österreich lokal weiterhin und verstärkt Zeichen und Maßnahmen dagegen gesetzt werden). Außerdem habe ich wunderbare Kontakte zu den Menschen hier, was mich so gut wie nicht merken lässt, dass meine Familie fast schon ausgestorben ist. Ich fühle mich hier unter den Nachbarn, Freunden und in der Landschaft bestens aufgehoben. Natürlich kann fallweise beobachtet werden, dass es Interessen gibt, dass das Paradies auf Erden hier doch nicht verwirklicht werden soll, aber das ist ja weltweit so.

Gerhard Pirkner ist Herausgeber und Chefredakteur von „Dolomitenstadt“. Der promovierte Politologe und Kommunikationswissenschafter arbeitete Jahrzehnte als Kommunikationsberater in Salzburg, Wien und München, bevor er mit seiner Familie im Jahr 2000 nach Lienz zurückkehrte und dort 2010 „Dolomitenstadt“ ins Leben rief.

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