Warum finden manche Menschen Pilze auf Schritt und Tritt und andere sehen kaum einmal ein Hütchen, geschweige denn das von einem köstlichen Steinpilz, den Haubenkoch Christian Hofer vom Restaurant am Tristachersee so appetitanregend neben sein zart gebratenes Hirschkotelett drapiert? Vermutlich weil nicht jeder mit offenen Augen durch die Natur und den Wald wandert, oder – in der weniger romantischen Variante – kein Funkgerät dabei hat wie unsere italienischen Nachbarn, deren „appetito“ auf die Früchte des Osttiroler Waldes beinahe unstillbar scheint. Im Herbst, wenn nach Ferragosto wieder Ruhe einkehrt, ist zwar manch leicht zugängliche Waldlichtung abgejätet und für den weniger Kundigen nicht mehr viel zu holen, doch unser Fotograf Wolfgang C. Retter ist eine Art Indianer mit Kameraauge und dem sensitiven Spürsinn, der den wahren Pilzsammler und Waldkenner auszeichnet.
Sammeln ist sowieso das falsche Wort, es muss natürlich suchen heißen. Retter war für uns auf der Suche – weniger nach Essbarem, als nach einem Augenschmaus. Wir zeigen auf den folgenden Seiten die Schönheit der seltsamen Gewächse, die keine Tiere und keine Pflanzen sind, sondern ein eigenes Reich vielzelliger Eukaryoten bilden, trotz ihrer Sesshaftigkeit eher mit Tieren als mit Pflanzen verwandt. Entsprechend groß ist ihre ökologische Bedeutung. Pilze wirken als Zersetzer von totem organischem Material und unterstützen 80 bis 90 Prozent aller Pflanzen in ihrem Wachstum. Aus der Nähe betrachtet sind sie – wie so vieles im Wald – ein Wunder der Natur, das wir auf den folgenden Seiten vor Ihnen ausbreiten.
Ein Wort zur Genießbarkeit sei aber noch geschrieben. Pilze sind seit Jahrtausenden für den Menschen auch wichtiges Nahrungsmittel, sie werden nicht nur gesammelt, sondern auch kultiviert. Sie beglücken und berauschen uns, sie können sich aber auch auf den Magen schlagen und deshalb ist unsere Dolomitenstadt-Faustregel: „Iss nichts, was kein Steinpilz oder Eierschwammerl ist, höchstens noch einen gebackenen Parasol mit Sauce Tartare im Stammlokal.“ Wer sich daran hält, bleibt gesund und munter, vor allem durch die Bewegung im Wald und ihre meditative Wirkung auf den unruhigen Geist des Städters, der verlernt hat zu hören, zu riechen – und zu staunen. Wolfgang C. Retters Sinne sind intakt, er hat für uns die wichtigsten Pilze nicht nur gefunden, sondern auch wunderbar ins Bild gerückt, uns aber natürlich nicht verraten wo. Das ist nämlich auch ein wichtiges Element des Pilzekultes in den Alpen: Die Orte, an denen die Eingeweihten die Köstlichkeiten liebevoll mit einem Messerchen abschneiden, dann gleich mit einem speziellen Pinselchen reinigen und in einen geflochtenen Korb oder Jutesack legen, diese Orte sind geheim oder zumindest geheimnisumwittert. Vielleicht liegt es auch daran, dass Pilze gerne dort wachsen, wo man auch eine Folge von „Herr der Ringe“ drehen könnte. Oder Rotkäppchen. Oder die Schlümpfe. Wo Pilze sind, da sind auch Märchen, da ist ein Zauberwald, in dem zauberhafte Wesen wachsen, nicht Tier und nicht Pflanze, behütet von großen Freunden, den Bäumen. Diese Freundschaft nennt der Botaniker Symbiose.
Die Pilze umschlingen die Pflanzenwurzeln eng mit ihren Hyphen und bilden damit einen sogenannten Myzelmantel, über den die Wurzeln Nährstoffe aus dem Boden aufnehmen. Pilz und Baum profitieren von dieser Kooperation. Die Pflanze erhält über den Pilz mehr Nährstoffe, weil sein feines Mycel den Boden enger durchwirkt, als es ihre eigenen Saugwurzeln je könnten. Auf nährstoffarmen Böden kann das eine Überlebensfrage sein. Der Pilz erhält als Gegenleistung Nahrung in Form von Kohlenhydraten, die die Pflanze durch Photosynthese erzeugt. Alle Pilze sind für ihren Stoffwechsel auf die von anderen Lebewesen gebildeten organischen Stoffe angewiesen. Außer Bäumen leben auch viele Orchideen mit Pilzen in Symbiose, die sie bei der Keimung ihrer Samen brauchen. Und zu guter Letzt ist der Pilz auch der Letzte, der gemeinsam mit Bakterien und Kleinlebewesen alles zerstört, was einmal lebendig war. Pilze sind die wichtigste Gruppe der am Abbau organischer Materie beteiligten Lebewesen. Nur sie können Lignin aufspalten. Sie sind die effizientesten Verwerter von Zellulose und Keratin. Weniger botanisch ausgedrückt sorgen diese wunderbaren Waldbewohner dafür, dass alles, was im Wald wächst, kreucht und fleucht am Ende zu Humus wird und damit zum Nährboden für neues Leben. Ein epischer Gedanke, der dem Eierschwammerlgulasch samt Semmelknödel die philosophische Würze gibt. Gerade das Eierschwammerl, der geselligste unter den Pilzen, ist im heimischen Nadelwald weit mehr als ein gesuchter Speisepilz. Der „Echte Pfifferling“, den in unseren Breiten niemand so nennt, ist von allen Pilzen am leichtesten zu finden. Potenzieller Pfifferlingsstandort ist laut Wikipedia (man merkt, das Internet ist überall) „bodensaurer Fichtenwald mit spärlichem Pflanzenbewuchs.“
Der Echte Pfifferling ist ein Mykorrhizapilz, der mit diversen Nadel- und Laubbäumen Symbiosen eingeht. In Mitteleuropa ist der bevorzugte Baumpartner die Fichte, gefolgt von der Rotbuche. Außerdem kann der Pilz mit Eichen, Kiefern und Tannen gut leben. Das Eierschwammerl besiedelt also auch die heimischen Waldtypen, wächst gern auf mäßig trockenen, basen- und nährstoffarmen Böden, oft fröhlich gelb auch in Jungpflanzungen und an mehr oder weniger offen, nur schütter von Gräsern, Stauden und Moosen bewachsenen Stellen. Kein Wunder, dass selbst untalentierte Sammler ab und zu ein Schwammerl finden. Es wächst in Mitteleuropa von Juni bis November. Der Echte Pfifferling kommt aber auch in Australien, Südamerika, Nordasien und Nordamerika vor.
Unser Fotograf Wolfgang C. Retter hat natürlich nicht nur Eierschwammerl gefunden, sondern noch viele andere der mehr oder weniger köstlichen Waldbewohner. Tagelang war er für eine Fotostrecke unterwegs, deren Schönheit ein Buch füllen könnte. Vielleicht finden wir einen Sponsor dafür. Der Duft der Pilze, die Mystik des Waldes, seine Ruhe und seine Kraft, seine Wunder und seine Genüsse sind unglaublich wertvoll und in Osttirol allgegenwärtig. Vielleicht muss man auch deshalb manchmal darauf hinweisen, dass dieser Schatz nicht selbstverständlich ist – und schon gar nicht wertlos.
Es ist viel mehr ein Schatz, den wir wie die Zwerge im Märchen sorgfältig hüten sollten und nur Eingeweihten erschließen. Erst wenn aus den Pilzbrigaden mit Funk- und GPS-Geräten wieder ehrfürchtige Waldwanderer auf der Suche nach den letzten Wundern geworden sind, werden wir verstehen, warum Nationalparks und Natura 2000 nicht sinnlos sind, sondern die einzige Garantie, dass der Kreislauf des Lebens weitergeht.
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