Bolivien: Mit leeren Händen dastehen
Wie es sich lebt, umgeben von bitterer Armut und Vorurteilen.
Es ist ein milder Freitagnachmittag mit Temperaturen um die 20 Grad Celsius. Der Winter verabschiedet sich schon. Mein Freund und ich spazieren durch das Stadtzentrum und setzen uns auf die Terrasse einer der traditionellen Eisdielen Cochabambas. Wir bestellen das hausgemachte Erfrischungsgetränk und einen Becher Zimt- und Milcheis. Lecker! Doch der Genuss währt nur kurz.
Mein Freund drückt unseren Rucksack fester an sich und späht misstrauisch zum Eingang der Terrasse. Dort ist ein Obdachloser aufgetaucht, mit von der Sonne verbrannter Haut, verfilzten Haaren und zerrissenen Kleidern. „Polillas“ werden die Obdachlosen hier genannt – „Motten“. Doch es passiert nichts. Der Obdachlose bettelt an der Theke um ein Glas Wasser, das er auch erhält. Dann sucht er das Weite.
Zehn Minuten später erscheint ein alter Mann mit Schuhputzzeug auf der Terrasse und steuert auf mich zu. Er spricht kaum Spanisch, aber gibt zu verstehen, dass er findet, meine Schuhe bräuchten eine Reinigung. Er hat Recht, also halte ich ihm meine Füße hin. Während er arbeitet, esse ich mein Eis. Welch ein Aufeinandertreffen von Privileg und Armut. Am Ende verlangt der Alte umgerechnet 50 Cent für seine Arbeit. Mein Freund will verhandeln, doch ich halte dem Schuhputzer beschämt das Geld hin.
Vorfälle wie diese gehören in Bolivien zur Normalität. Auf der Straße streckt sich den Passanten an jeder Straßenecke eine bittende Hand entgegen. Viele der Bettler kommen aus den Dörfern im Norden der Provinz Potosí, einer der ärmsten Gegenden Boliviens. Kinder, Behinderte, Alte betteln auf der Straße. Die Menschen hier sagen, dass die Armen nicht nur betteln, sondern auch stehlen. Die Bolivianer haben gelernt, wegzuschauen. Viele leben in ihren umzäunten Häusern mit hübschen Möbeln und immergrünen Gärten, die von der unterbezahlten Haushälterin gepflegt werden. „Zuhause kann man es sich einrichten“, sagt meine Schwiegermutter, „doch draußen, da herrscht das Chaos.“
Ich habe mich auch in Bolivien eingerichtet. Ich lebe ein relativ beschütztes Leben hier. Und wenn mir auf der Straße ein Bettler begegnet, dann schaue ich weg. Denn was soll ich machen? Ich glaube nicht, dass karitative Geldspenden von Ausländern die Armen retten werden. Ich glaube, dass sich in Bolivien selbst etwas verändern muss. Wir müssen dafür arbeiten, dass alle Menschen ein Sicherheitsnetz haben. Wir müssen dafür arbeiten, dass die vielen Reichen ihren Teil zur Gesellschaft beitragen.
Es gibt viele sehr gute und kritische bolivianische Organisationen, deren Arbeit ich auch unterstütze. Leider stemmt sich die Regierung oft gegen diese Arbeit und bezeichnet kritische Organisationen als „Verbündete der Imperialisten“. So wird es noch dauern, bis sich die Situation der Armen in Bolivien zum Besseren wendet.
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