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Rotes Kreuz Osttirol: „Gott segne Euch!“

Zwischen ihren Diensten sind Freiwillige bereit, auch noch im Flüchtlingseinsatz zu helfen.

1.700 Flüchtlinge und kaum etwas Warmes zum Anziehen. Marianne und Peter vom Roten Kreuz Lienz versuchen trotzdem, mit sehr viel Liebe Brauchbares für alle zu finden: Foto: Camillo Girstmair
1.700 Flüchtlinge und kaum etwas Warmes zum Anziehen. Marianne und Peter vom Roten Kreuz Lienz versuchen trotzdem, mit sehr viel Liebe Brauchbares für alle zu finden: Fotos: Camillo Girstmair
Das Rote Kreuz würde, wie die Feuerwehr oder wie die Gesellschaft an sich, ohne Freiwillige nicht funktionieren. Sie versorgen Verletzte, kümmern sich um medizinische Notfälle, führen Essen auf Rädern aus, machen Besuchsdienste und sind für alle jene da, die Hilfe brauchen. Die Liste ihrer Dienste ist lang und die Arbeit unersetzbar. Das Gleiche gilt für jene, die als angestellte Mitarbeiter dabei sind. Manchmal aber sind auch beim Roten Kreuz Einsätze zu bewältigen, die besonders schwierig sind, Katastropheneinsätze etwa, oder derzeit die Anforderung, Flüchtlingen zu helfen. Bezirksgeschäftsführer Andreas Stotter erzählt, dass eines Tages eine "Alarmierung über das Landesrettungskommando kam. Es hieß, es sei eine außerordentliche Situation und Herausforderung." Die relativ dramatische Darstellung aus Nordtirol sei so im Raum hängen geblieben. Man wusste nicht, ob es in einer halben Stunde losgehen würde oder erst am nächsten Tag, doch man musste ganz rasch Freiwillige finden. Das Rote Kreuz Osttirol hat in den letzten Wochen schon sechs solche Einsätze bewältigt, alle auf freiwilliger Basis, in Wien, in Heiligenkreuz und in Nickelsdorf. Die Arbeiten unterscheiden sich je nach Ort, doch einiges bleibt überall gleich: Menschen auf der Flucht, denen man kurz begegnet, zu essen oder etwas zum Anziehen gibt, medizinisch weiterhilft und mit ihnen einige Augenblicke oder einen Blickwechsel teilt. Dazwischen überraschende Momente, etwa wenn ein Flüchtling einen Besen nimmt und mitten im Chaos zusammenräumt, ehe er weiterzieht. Manche fragen, in welchem Land sie die besten Chancen hätten. Andere erzählen, sie seien aus Damaskus und das Nachbarhaus sei ausgebombt worden, deshalb hätten sie sich auf den Weg gemacht, egal wohin. Die Mitarbeiter vom Roten Kreuz hören zu und geben dem Betroffenen momentan das Gefühl, Mensch zu sein, nicht einfach einer von 1.700, die mit dem letzten Zug aus Ungarn angekommen sind. Dann verschwindet auch er wieder in der Masse und zieht weiter, zuerst nach Wien, dann Deutschland oder Norwegen oder wohin man ihn lässt.
In der Masse bleibt kaum Zeit für das Individuum. Die Freiwilligen aus Osttirol bleiben trotzdem unermüdlich und freundlich. Fast immer gibt es ein "Danke" dafür, manchmal auch ein "Gott segne Euch!"
In der Masse bleibt kaum Zeit für das Individuum. Die Freiwilligen aus Osttirol bleiben unermüdlich freundlich. Fast immer gibt es ein "Danke" dafür, manchmal auch ein "Gott segne Euch!"
In den letzten zehn Tagen gab es gleich zwei Einsätze für das Rote Kreuz Osttirol zu bewältigen, all das neben der Alltagsarbeit. Dennoch fanden sich bisher ausreichend Freiwillige und Mitarbeiter, die zwischen ihren Diensten auch noch solch einen Einsatz bewältigen. Beim Wegfahren ist jeweils noch unklar, wohin die Reise gehen wird, nach Wien oder an die Grenze. Man fährt zunächst "gegen Osten", wie Benni Strasser lachend erzählt, dann kommt irgendwann der Anruf, dass man nach Nickelsdorf fahren solle und dort schon dringend erwartet werde. Die Einsätze scheinen auf den ersten Blick kurz zu sein: 48 Stunden plus Fahrzeit. Anders wäre es kaum organisierbar – einerseits weil die Mitarbeiter auch in Osttirol gebraucht werden und die Freiwilligen extra Urlaub nehmen müssen und andererseits, wie Andreas Stotter sagt, lässt sich mehr kaum durchhalten. Rene Lanner, der in Wien im Einsatz war, pflichtet ihm bei: „Es ist fordernd, du arbeitest viele Stunden, schläfst auf Bereitschaft. Das ginge vielleicht drei Tage, aber viel länger nicht.“
Es sind schon sechs Teams unterwegs gewesen, hier das Einsatzteam vom 11.-13. Oktober, v.l.: Einsatzkommandant Benjamin Strasser, Michael Tribelnig, Marianne Kollnig, Bayar Khalil, Rene Mayer, Camillo Girstmair und Peter Moser. Foto: Daniela Ingruber
Es sind schon sechs Teams unterwegs gewesen, hier das Einsatzteam vom 11.-13. Oktober, v.l.: Einsatzkommandant Benjamin Strasser, Michael Tribelnig, Marianne Kollnig, Bayar Khalil, Rene Mayer, Camillo Girstmair und Peter Moser. Foto: Daniela Ingruber
So ist es auch am Sonntag, dem 11. Oktober, als sich wieder acht Personen auf den Weg zum Grenzort Nickelsdorf machen. Sofort nach der Ankunft geht der Dienst los. Nachtschicht. Zwölf oder 13 Stunden, bei einer Temperatur von einem Grad plus. Vier arbeiten im Sanitätszelt und vier bleiben im Freien, um Decken und Kleidung an die vorbeikommenden Flüchtlinge zu verteilen, wenn es denn etwas zu verteilen gäbe. Bei den Decken gibt es zwar Nachschub, doch als ein Zug mit 1.500 Personen ankommt, die vielfach nur in Sandalen und ohne Socken gehen, stehen die Helfer aus Osttirol mit weniger als zehn Paar Schuhen da. Auch Jacken und Mäntel gibt es kaum, dafür zahllose Sommer-T-Shirts, weil diese am häufigsten gespendet werden. Marianne hat Tränen in den Augen, als sie die viel zu leicht bekleideten Kinder sieht. Sie kramt in den Kisten und gibt nicht auf, bis sie zumindest für einige von ihnen etwas Brauchbares gefunden hat. Manchmal erhalten die Helfer dafür ein englisches „Gott segne dich“, manchmal ein arabisches „Vergelt’s Gott“ oder „Danke“ in gebrochenem Deutsch. Manchmal reicht die Kraft auch nur noch für einen dankbaren Blick aus erschöpften Augen.
Die Minuten, ehe der nächste Zug aus Ungarn ankommt. Kurzes Aufräumen, vielleicht ein Kaffee und einmal kurz durchatmen. Es liegt etwas Gespenstisches in der Ruhe vor dem nächsten Ansturm.
Die Minuten, ehe der nächste Zug aus Ungarn ankommt. Kurzes Aufräumen, vielleicht ein Kaffee und einmal kurz durchatmen. Es liegt etwas Gespenstisches in der Ruhe vor dem nächsten Ansturm.
Um Mitternacht eine kleine Pause. Der nächste Zug aus Ungarn wird in einer halben Stunde erwartet. 1.700 Leute sollen es sein, vielleicht auch 2.500, so genau weiß man das nie, da die Ungarn den österreichischen Behörden keine Auskünfte erteilen. Erst wenn der Zug angekommen ist, sieht man es. Dann läuft alles sehr geordnet. Die Polizei stellt ihre Autos so auf, dass sie die Flüchtlinge leiten, die Soldaten nehmen Aufstellung, um die Masse so effizient wie möglich zu trennen in jene, die mit dem Gratisbus fahren und in jene, die sich ein Taxi leisten können. Wer dieses Geld nicht besitzt, wartet ein paar Stunden. Dafür gibt es ein unbeheiztes Zelt mit einigen Feldbetten. Es wird darüber gestritten, welche Organisation für die Reinigung der Zelte verantwortlich ist, daher sind einige voller Schmutz und Erbrochenem. Die Flüchtlinge warten zum Teil lieber in der Kälte. Auch die Freiwilligen des Roten Kreuzes frieren. Zwischendurch gibt es eine Tasse Tee oder Kaffee im Sanitätszelt, um sich aufzuwärmen. Bald aber drängt das Pflichtgefühl wieder hinaus in die Kälte, den Nebel und Wind. Doch die Osttiroler Helfer halten durch, ohne sich ein einziges Mal zu beklagen.
Die wenigsten Flüchtlinge haben brauchbare Schuhe an. Viele kommen in Sandalen, ohne Socken. Schuhe wie diese gehören schon zu den besseren Exemplaren. Fotos: Camillo Girstmair
Die wenigsten Flüchtlinge haben brauchbare Schuhe an. Viele kommen in Sandalen, ohne Socken. Schuhe wie diese gehören schon zu den besseren Exemplaren. Fotos: Camillo Girstmair
Szenenwechsel: Im Sanitätszelt werden pro Nacht 100 bis 200 Menschen versorgt. Soviel halt geht, sagt Michael. Wer schwerer krank ist, wird ins Krankenhaus gebracht, die anderen dürfen sich ein paar Stunden auf einem Feldbett aufwärmen, um wieder zu Kraft zu kommen. Es sind vorwiegend Kinder mit Verkühlungen oder Schwächeanfall. Ein kleines Mädchen hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Ihre Mutter ist selbst so erschöpft, dass sie den kurzen Weg zum Sanitätszelt verweigert. Eine andere Frau hat eine Fehlgeburt. Sie hat Glück, dass ihr geholfen werden kann. Für das Drama an sich hat niemand mehr Zeit, sie selbst auch nicht. Erst am Morgen werden die Sanitäter darüber sprechen. Dann kommen ein paar Minuten lang die Emotionen hoch, doch sie wissen, dass es auch jetzt kaum der richtige Zeitpunkt ist, also schnell weg damit, denn jetzt muss man sich ein wenig ausruhen, um in ein paar Stunden wieder einsatzfähig zu sein, für neue Flüchtende mit neuen Problemen. Unabkömmlich ist Bayar Khalil, ein Iraker, der seit sechs Jahren in Lienz lebt. Eine Aufenthaltsgenehmigung hat er noch immer nicht, daher hilft er manchmal beim Roten Kreuz aus. In diesem Einsatz hält er mit seinen Sprachkenntnissen und seinem Erfindungsreichtum das Rad am Laufen.
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Ein Plakat und ein Übersetzer mit Lautsprecher versuchen über die Möglichkeit des Gratisbusses und über die mit der Innung vereinbarten Taxipreise aufzuklären: Wien € 170,-, Salzburg € 650,-
Auch die Zusammenarbeit zwischen den Organisationen funktioniert – vor allem auf menschlicher Ebene. Hin und wieder gibt es einen kurzen strengen Wortwechsel zur Politik im Land und zu den Wahlergebnissen aus Wien, doch meist hilft man sich gegenseitig aus, so kommt der Polizist und bittet um eine warme Tasse Kaffee, dafür drückt er ein Auge zu, wenn die Helfer aus Mitleid den Kindern dort Decken austeilen, wo sie eigentlich nicht stehen dürften. Oder ein Soldat bittet um Decken und bringt sie persönlich zu zwei Flüchtlingen, die nicht mehr die Kraft haben, sich anzustellen. Menschlichkeit, dazu muss er gar nicht der Meinung sein, dass deren Flucht sinnvoll ist, er hilft einfach, weil es jetzt notwendig ist, wenn zwei Frierende vor ihm hocken. Genau das sagen auch die Freiwilligen vom Roten Kreuz. Die Politik organisieren die anderen, jetzt geht es um den Moment, in dem jemand friert, krank ist oder statt mit Schuhen mit Plastiksäcken an den Füßen angekommen ist. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie seine Füße aussehen, und noch viel weniger hat man hier in Nickelsdorf Zeit darüber nachzudenken, ob er morgen eine neue Heimat findet.
Plötzlich werden zwei Lienzer abgezogen, in ein anderes Lager, wo es keinen Arzt und keinen Sanitäter gibt. Sie kennen das Lager nicht, wissen nicht, was sie erwartet. Sie fahren trotzdem, denn sie wissen, es ist notwendig.
Plötzlich werden zwei Lienzer abgezogen, in ein anderes Lager, wo es keinen Arzt und keinen Sanitäter gibt. Sie kennen das Lager nicht, wissen nicht, was sie erwartet. Sie fahren trotzdem, denn sie wissen, es ist notwendig.
Was geht durch den Kopf eines Helfers? Marianne sagt, sie wird von den Kindern träumen und auch tagsüber oft an sie denken. Rene Maier weiß, dass er auch beim nächsten Mal dabei sein will, auch wenn es schon sein dritter Einsatz war. Andere wiederholen immer wieder: "Diese armen Menschen!" Wieder andere schweigen. Am Ende sagen fast alle, dass sie sich vorstellen können, wieder zu solch einem Einsatz zu fahren, nicht sofort, aber bald. Zunächst wollen sie mit Freunden und Familie sprechen, das loswerden, was man gesehen hat – soweit es möglich ist, Worte dafür zu finden. Und dann freuen sich alle auf das eigene Bett und ein paar Stunden Schlaf. Inzwischen ist der nächste Einsatzbefehl gekommen, sagt Andreas Stotter, und fragt sich, woher er diesmal die Freiwilligen hernehmen soll. Nur soviel, man muss nicht Sanitäter sein, um sich freiwillig zu melden.
Hunderte Decken helfen in der ärgsten Kälte über die Wartestunden. Am nächsten Tag werden sie eingesammelt, gereinigt und dann wieder verteilt.
Hunderte Decken helfen in der ärgsten Kälte über die Wartestunden. Am nächsten Tag werden sie eingesammelt, gereinigt und dann wieder verteilt.
 
Daniela Ingruber stammt aus Lienz und arbeitet als Demokratie- und Kriegsforscherin am Institut für Strategieanalysen in Wien. 

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