3. Oktober 2015, Foyer des Kolpingsaales in Lienz – Ich bin mit Andreas Thaler verabredet, der für dolomitenstadt.at gleich gegen einen Weltklassemann in den Ring steigen wird, nicht im Boxen, sondern in einem Sport, bei dem der Kopf mehr als eine Knautschzone ist: Schach. An der Seite von Thaler wird Johann Fritzenwanger aus Leisach für uns kämpfen.
Wir stellen zwei von insgesamt 30 Gegnern (!), die gemeinsam im "Simultanschach" gegen einen einzigen Mann antreten: Markus Ragger aus Klagenfurt, Jahrgang 1988, Großmeister und seit 2007 bester Schachspieler Österreichs. Er ist auch schon da, plaudert entspannt mit den Mitgliedern des Lienzer Schachklubs und sieht aus, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Der Schachklub feierte sein 70 Jahre-Jubiläum und gönnt sich zu diesem Fest eine Partie vom Feinsten.
Ragger hat 2698,8 Elo-Punkte. Schachspieler knien nieder, wenn sie diese Zahl hören. Der Kärntner ist unter den Top 50 der Welt. Ab 2500 Elo-Punkten gilt man als "Großmeister". Ragger wirkt wie ein freundlicher Bankangestellter oder Filialleiter aus dem Baumarkt und lächelt bescheiden.
Gegen 15.00 Uhr bewegen sich die Gruppen in den Saal, wo in einem Geviert die Tische und Schachbretter aufgebaut sind. 30 Bretter und – außen um die Tische – 30 Sessel. Der Meister hat keine Zeit zum Sitzen, er spielt im Gehen. Es gilt freie Platzwahl. Thaler und Fritzenwanger, die beiden Dolomitenstadt-Spieler, setzen sich nebeneinander. Auf der gegenüber liegenden Seite des Gevierts nimmt eine Gruppe Italiener Platz. Sie kommen aus Cornuda, einem kleinen Dorf an der Prosecco-Route, nicht weit von Valdobbiadene.
Sie sind mit Kind und Kegel angereist, um gemeinsam mit den Osttiroler Schachspielern 70 Jahre Schachklub Lienz zu feiern und einen Großmeister bei der Arbeit zu sehen, beim Simultanschach gegen 30 Gegner, darunter zwei Frauen. Der Jüngste am Tisch ist der 14 Jahre alte Lienzer Julian Maresic. Er sitzt neben seinem Vater und gilt als eines der größten Schachtalente des Landes. Einen Jugend-Staatsmeistertitel hat er schon in der Tasche. Ein paar Plätze weiter fordert noch ein junger Spieler mit Potenzial den Großmeister: Elias Walder, Mathematik-Olympionike, 16 Jahre und in seiner Altersklasse unter den Top 30 in Österreich.
Dann geht es los. Der Meister spielt auf allen Brettern mit Weiß, hat also den ersten Zug. Er macht die Runde, schüttelt 30 Hände, begrüßt jeden seiner Gegner und zieht. Die Runde um den Tisch dauert kaum eine Minute. Ragger spaziert von einem Brett zum nächsten, nimmt sich pro Zug kaum mehr als eine Sekunde Zeit. Alle seine Gegner können nachdenken, bis er wieder da ist. Lang ist auch das nicht. Die Regel sagt, Schwarz zieht erst, wenn der Meister am Brett steht. Einmal darf man ihn weiterwinken, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
Ab der vierten Runde fallen Figuren. Es ist ruhig im Saal. Dann bleibt Ragger vor Andreas Thaler stehen, unserem Kandidaten. Überlegt ein Weilchen. In mir keimt Hoffnung auf, haben wir einen Joker am Tisch? Ragger greift sich ans Kinn, zieht, spaziert weiter. Auch ohne großes Schachwissen spürt man, dass es in dieser Phase vor allem um eines geht: niemand will als erster ausscheiden. Es ist wie in der Millionenshow. Man will nicht an den einfachen Problemen scheitern. Von gewinnen redet hier niemand laut, Remis ist das Zauberwort. Nicht verlieren!
Es riecht stark nach Gulaschsuppe im Saal. Nach einer Stunde hat man sich an den Geruch gewöhnt, ihn fast vergessen. Noch sitzen alle am Tisch. Julian Maresic hat noch alle Figuren auf dem Brett und lächelt. Elias Walder lächelt auch. Ragger zieht 80 Prozent aller Züge ohne sichtbares Nachdenken oder Innehalten. An einigen Brettern bleibt er jetzt aber stehen, stützt die Hände auf den Tisch, duckt sich ein wenig, als wollte er die Situation auf dem Schlachtfeld aus einer anderen Perspektive sehen.
Die Kiebitze drehen ihre Runden. Die beiden Dolomitenstadt-Kandidaten lassen Federn. Ich frage Schachklub-Mitglied Manfred Niederwieser, der sich zwischendurch die Beine vertritt, nach seiner Taktik. "Ich spiele so, dass es möglichst lang dauert. Noch hab ich gleich viele Figuren." Eine Stunde ist gespielt, alle sind noch am Tisch. Nach 80 Minuten steigt der erste aus. Er bekommt einen Handshake und ein Autogramm von Ragger. Dann zieht der Großmeister für einen seiner Gegner, der nicht am Platz ist. Der kommt zurück und ist einverstanden. Es ist der Zug, den er ohnehin machen wollte.
Manche Spieler versuchen zwei Züge hintereinander, schauen triumphierend und bekommen die Quittung in einer Sekunde. Auf den meisten Brettern wird defensiv gespielt. Dann eine auffallende Unsicherheit des Meisters bei Julian. Er zieht, zögert, macht den Zug dann doch.
Plötzlich das erste Remis! Alfred Bodner hat es geschafft. Wenig später noch ein Unentschieden. Erwin Sattler sackt einen halben Punkt ein. Zwei alte Haudegen des Schachklubs können sich zufrieden ein Achtel Roten gönnen.
Je weniger Figuren auf den Brettern und je weniger Spieler am Tisch übrig bleiben, desto besser werden die Karten für den Meister. Immer kürzer werden seine Runden um den Tisch, immer schneller kommen seine Züge. Ragger ist Nummer 37 der Welt im Schnellschach. Im Endspiel macht einer wie er keine Fehler. Julian Maresic wird von einer Traube älterer Herren umringt. Gut 150 Jahre Schacherfahrung blicken dem 14-Jährigen über die Schulter. Schafft er die Sensation? Immer länger denkt Ragger am Tisch von Maresic nach. Dann passiert es. Julian zieht, der Gegenzug kommt schnell. Der Meister lächelt. Vorbei.
Jetzt schüttelt Ragger Hände am laufenden Band, verabschiedet der Reihe nach seine Gegner, auch unser Dolomitenstadt-Duo Thaler und Fritzenwanger. Mehr als 40 Züge haben sie geschafft, eine gute Performance, doch jetzt wird das Tempo zu hoch, auch für die tapfersten der Amateure. Der letzte am Tisch ist Elias Walder, er sitzt vor einem fast leeren Brett als Ragger ein Remis annimmt. Gut gekämpft Elias!
Am Ende lautet die Bilanz: Fünf Remis, die gefeiert werden wie Siege und 25 Siege für den Meister. Drei Stunden höchste Konzentration, die man ihm niemals ansah, so locker drehte der Kärntner seine Runden, ab und zu ein Aufblitzen von Erstaunen, niemals ein Anflug von Unsicherheit. Einer der Italiener, er ist unter den letzten "Überlebenden" am Tisch, rätselt, wo er den entscheidenden Fehler gemacht hat. Ragger nimmt die Figuren und rekonstruiert in Sekunden die Partie noch einmal auf dem Brett. Von hinten nach vorn, Zug um Zug. Mit einem Lächeln erklärt er, wo der Fehler passierte. Der Mann hat sich alle 30 Partien gemerkt!
Kein Wunder, dass zum Schluss auch noch die Kinder aus Cornuda gegen ihn antreten und vom Großmeister lernen wollen. Der spielt geduldig mit und sammelt statt Elo-Punkten diesmal scharenweise junge Fans, die sich über ein Selfie mit dem Großmeister freuen, als sei er ein Popstar. Ich kann´s verstehen. Eigentlich wollte ich nach einer halben Stunde gehen. Es wurden drei Stunden – und keine Minute war langweilig!
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