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Fußball: Sommerwunder(n) in der Hansestadt

Ein Österreicher schreibt mitten aus der schwarzrotgoldenen Fußballwelt.

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Fotos: Marcus G. Kiniger
Seit 2006 spricht man in Deutschland vom Sommerwunder, wenn von Fußballweltmeisterschaften die Rede ist. Ich wundere mich mit, jeden Sommer seither, auch und vor allem über mich. Denn dass ich einmal bei Fußball-Weltmeisterschaften mitfiebern werde, sogar Deutschland anfeuere und mir mitten in der Nacht selbst Exoten-Spiele ansehe, war mir nicht in die Wiege gelegt. Ich ließ mich jedoch schon früh zu der österreichischen Schadenfreude über von Deutschland verlorene Spiele hinreißen, auch ohne jegliche fußballerische Ahnung oder Kompetenz meinerseits. Als ich zum Beispiel während der Fussball Europameisterschaft 1992 auf einem Festivalgelände in der Schweiz stand – und auf den Auftritt der Toten Hosen als Gehörgangsbefrieder gegen die gerade von der Bühne gepfiffene Kelly-Family wartete – kam die Durchsage, das deutsche Team sei gerade gegen Dänemark im EM-Finale unterlegen. Jubel am ganzen Festivalgelände, von Schweizern und Österreichern. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich in den Jubel einstimmte, aber wenn ich genau darüber nachdenke, dann kann’s kein guter Grund gewesen sein, ganz besonders, weil ich mich nicht über den dänischen Sieg, sondern über die deutsche Niederlage freute. Vielleicht liegt dieser nicht besonders noble Zug in der Glorifizierung des Spiels in Cordoba, als die österreichische, schon ausgeschiedene Nationalelf den amtierenden deutschen Weltmeister aus dem Bewerb warf, worauf Österreich auf Jahrzehnte hinaus Edi Finger jr. zitierte und „I werd narrisch!!!“ skandierte. Die Deutschen blöd zu finden war nationaler Konsens und ich war davon alles andere als frei. Mittlerweile ist Hans Krankl laut eigener Auskunft die ewige Cordoba-Zitiererei peinlich und das österreichische Team hat schon mehr als ein Spiel seit Cordoba gegen das Deutsche gewonnen. Nur halt eben nicht bei Großereignissen. Mittlerweile lebe ich in Deutschland, und bin Teil einer St. Pauli begeisterten Familie geworden. Ich trage, während ich dies schreibe, einen St. Pauli Kapuzensweater und finde trotz teils sehr bescheidener Erfolge des Hamburger Zweitligisten den Weltpokalsieger-Besieger St. Pauli ganz wunderbar. Von Fußball verstehe ich immer noch nicht viel, sehe aber gerne gute Spiele. Beitragsbild-Sommerwunder Darüber wundere ich mich genauso, wie darüber, dass sich Deutschland vor fußballerischen Großereignissen wie wild beflaggt, und nationalen Pathos an den Tag legt, der mir fremd ist. Autofahrer maximieren ihren Spritverbrauch durch erhöhten Windwiderstand in Fähnchenform, Hunde, Kinder und Ehegatten werden in Schwarz-Rot-Goldenes eingekleidet, und selbst über Gartenlauben bläht sich der deutsche Banner. Das ist soweit auch schön und gut, besonders für die Produzenten Schwarz-Rot-Goldener Devotionalien, trotzdem, nationale Aufwallungen sind mir suspekt. Über die wundere ich mich ganz besonders. Was 2006 noch als recht harmlos patriotisch sportverliebtes Sommerwunder begann, bekam 2010 bei dem Nachhauseweg für mich einen recht eigenartigen Beigeschmack. Wir hatten mit einem mexikanischen Freund ein Mexiko-Spiel gesehen und waren mit der U-Bahn auf dem Nachhauseweg, als wir in einen Waggon voll mit Deutschland Fans stiegen, die sportlichen Patriotismus mit dumpfem Nationalismus verwechselten. „Es, es, es, es eskaliert“, und „Wehr macht, wehr macht, wehr macht mit“ und ähnlich Blödes wurde skandiert. Die Stimmen wie Stimmung kippten. Einem Schwarzen neben uns trat Angstschweiß auf die Stirn, und wir waren uns einig, dass wir in diesem Waggon nicht bleiben wollten, weil uns die Parolen und die aggressive Stimmung den Abend verdarben und uns auch Angst machten. Einen Waggon weiter wurde zwar Nichts mit SS skandiert, dafür hörte ich das Gespräch eines jungen Mannes mit, der seinem Gegenüber erklärte, Deutschland habe soeben den Krieg gewonnen. Alles andere sei ihm egal. Aber den Krieg gewinnen, darum gehe es hier, um nichts anderes. Darüber habe ich mich dann doch sehr gewundert. Sommerwunder-7240 Ich wundere mich seitdem immer wieder darüber, was mit Manchem geschieht, wenn 44 Fußballbeine hin und her rennen, Tore fallen und Nationalstolz das Hirn flutet. Ich bewundere, wenn Spieler sich überwinden, wenn gegnerische Mannschaften das Spiel feiern, wenn einer dem anderen wieder aufhilft, wenn er ihn vorher gefällt hat, weil’s um was geht. Ich staune darüber, wie Favoriten ins Wanken geraten, weil der Gegner einen unbedingten Siegeswillen hat, weil keiner am Platz perfekt sein kann, weil jedes Spiel anders ist und nationale Überlegenheit eine trügerische Illusion. Zum Wundern und Verwundern und Bewundern gibt’s rund um den Fußball wahnsinnig viel. Dass Politik zweitrangig wird, Krisen und Kriege vergessen scheinen, dass brasilianische Millionen Funktionärssäckel füllen, anstatt Brasilianern ein besseres Leben oder auch den Stadionbesuch zu ermöglichen, spielt in der Wahrnehmung, auch meiner, eine untergeordnete Rolle. Dass man für ein vollgeklebtes Panini-Album bis zu 560 Euro ausgeben muss, ist auch verwunderlich. Wie auch immer diese WM ausgehen wird, ich werde nachher hoffentlich ein paar tolle Spiele gesehen haben, keinen nationalen Blödsinn ertragen haben müssen, beim Public Viewing einmal einen guten Platz bekommen haben, mehr über Fußball, Gruppenpsychologie und Siegeswillen wissen und uns für’s nächste Mal einen anderen Kabelanbieter suchen. Denn als wir letztens in unserem Wohnzimmer bei offener Balkontür ein Spiel sahen, kam von der SKY-Eckkneipe schon um einige Sekunden früher der Jubel über Tore, die wir noch in der spielerischen Vorbereitung sahen. Das war weniger wunderbar. Auch wenn der Jubel selbst schön war. Wunderbar sogar.
Marcus G. Kiniger wurde 1969 in Wien geboren. Seine Familie kam 1976 nach Sillian, wo der gelernte Tourismuskaufmann und ambitionierte Musiker bis 2008 lebte, bevor er nach Hamburg übersiedelte. In Norddeutschland vertreibt Kiniger Produkte aus Tirol. Er schreibt für dolomitenstadt.at die Kolumne "Waterkantiges" und ist auch regelmäßiger Autor im DOLOMITENSTADT-Printmagazin.

Ein Posting

Kurgan
vor 10 Jahren

Sehr geehrter Hr. K.

Ich möchte zwei Kleinigkeiten richtigstellen: Zum einen spricht man in Deutschland seit 2006 vom "Sommermärchen" (allerdings gab es 1954 auch ein "Wunder von Bern"), und zum anderen hat Österreich seit Cordoba tatsächlich "nur" ein (Freundschafts-)Spiel gegen Deutschland gewonnen. Von 17! Leider.

 
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