Querdenken für Osttirol – einmal anders
Muss es das Ziel unserer Region sein, ein höheres Wirtschaftswachstum zu erreichen?
Sarah Kollnig, Osttirolerin, die in Schweden an ihrer Dissertation arbeitet, hat uns folgenden Leserbrief geschickt:
Am Mittwoch, 17. Juni 2015, fand eine weitere Veranstaltung zum "Vordenken für Osttirol" statt. Die Sprecher am Podium redeten davon, was Osttirol braucht: Mehr Dienstleistungen, da die Landwirtschaft zu wenig zum Bruttoregionalprodukt beiträgt. Eine "Inwertsetzung" des Natur- und Kulturraumes Osttirol. Eine Marke für Osttirol. Eine unternehmerische Führung der Region. Ein höheres Wachstum des Bruttoregionalprodukts. Nur dann kann es uns in Osttirol gut gehen.
Für mich drücken Vorschläge dieser Art vor allem aus, dass wir blind der Idee folgen, dass mehr Wirtschaftswachstum uns aus unserer Misere retten wird. Wir leben in einer Welt, in der die führenden Kräfte der Gesellschaft uns auf mehr oder weniger subtile Art davon überzeugt haben, dass es uns allen gut geht, wenn es der Wirtschaft gut geht. Lassen wir die Wirtschaft nur machen, der Rest regelt sich auf unsichtbare Weise von selber. Nun ist es aber so, dass steigende ökonomische und soziale Ungleichheiten auf regionaler wie globaler Ebene und zunehmende ökologische Probleme davon zeugen, dass Wirtschaftswachstum eben nicht alles regelt. Es kann sogar behauptet werden, dass es diese Fixierung auf wirtschaftliche Komponenten ist, die uns in diese Misere gebracht hat.
Daher schlage ich vor, dass wir quer-denken statt vordenken, für ein lebenswertes Osttirol. Es gibt seit einiger Zeit eine lebhafte Diskussion um eine Idee, die sich im Englischen „degrowth“ nennt – zu Deutsch kann diese Idee als „Wachstumswende“ bezeichnet werden. Diese Wachstumswende ist eine Bewegung, die sich in Frankreich, Spanien, Italien, aber auch in Ländern des globalen Südens herausgebildet hat. Sie führt eine politische Debatte, die das Ziel des Wirtschaftswachstums in Frage stellt. Es geht konkret darum, Produktion und Konsum zu verringern. Die Bewegung argumentiert, dass ein solcher Schritt in einer Welt mit begrenzten Ressourcen unvermeidlich ist. Die „Wachstumswende“-Bewegung setzt unter anderem auf Umverteilung, weniger Konkurrenz, Teilen, und die Reduktion überhöhter Einkommen. Diese Forderungen basieren auf der Erkenntnis, dass mehr Einkommen nicht mehr Zufriedenheit bringt. Außerdem erfordert das Prinzip der Gerechtigkeit eine Reduktion des Lebensstandards in den reicheren Teilen der Welt.
Was nach Romantik klingt, ist ein Weg zu „starker Nachhaltigkeit“, einer Nachhaltigkeit, die nicht als grünes Feigenblatt für mehr Wirtschaftswachstum funktioniert, sondern die es wagt, unser wirtschaftliches und politisches System neu zu denken. Das bedeutet nicht, dass wir kein „Vordenken für Osttirol“ brauchen. Es bedeutet aber, dass wir mehr Querdenken in dieses Vordenken bringen sollten. Als Querdenker können wir erkennen, dass eine Erhöhung der Lebensqualität von einer Erhöhung des Wirtschaftswachstums unabhängig ist. Wir benötigen neue Wege und Denkweisen. Vielleicht ist die „Wachstumswende“-Bewegung ein solcher neuer Weg. (Sarah Kollnig)
Zu meiner Person:
Ich bin gebürtige Osttirolerin und arbeite als Doktorandin an der Universität Lund (Schweden). Ich bin dort am Institut für Humanökologie beschäftigt und erforsche die Zusammenhänge zwischen sozialen Ungleichheiten und Nachhaltigkeit, mit Fokus auf das Ernährungssystem in Bolivien.
3 Postings
@ alle Wachstumsvordenker: Bitte nehmt auch diese Gedanken, Ansichten auf.
Wenn es immer wieder heißt - die Landwirtschaft in Osttirol wird nicht effizient betrieben, es wäre besser, die Bäurinnnen würden als ArbeitnehmerInnen tätig sein - - wer bestimmt und rechnet dagegen den Wert eines Bauernhofes, der in Blumenpracht dasteht, - wer bewertet die Zeit, welche man da trotz oder wegen aller Arbeit für die Landwirtschaft gemeinsam verbringt?
Die im Vordenker-Prozeß angesprochene positive Freundlichkeit der Osttiroler, beruht diese (im wahrsten Sinn des Wortes) nicht darauf, dass es Leute in Osttirol, in den Tälern - angeblich nur mit Lederhose aber ohne Laptop - gibt, die mit etwas weniger Materiellem auch zufrieden sind.
Es wird nicht schwarz - weiß geben, eine Balance wäre anzustreben.
Danke liebe Sarah, und nochmal alles Gute von hier aus nach Bolivien!
Mir ist auch ganz anders geworden beim letzten Mal, wie plötzlich wieder vom "notwendigen Wachstum" die Rede war. So deutlich war es selten zu hören in dem ansich wichtigen Prozess.
Aber ich gebe dir 100% recht! Als ob es nicht genug Herausforderung, Beschäftigung wäre, mit den regionalen Ressourcen leben und wirtschaften zu lernen. Oder noch vorher, dass die ganzen Institutionen und Interessensvertretungen sich so gut verstehen lernen und zusammen finden, dass nicht laufend solche "Patzer" passieren und Verkaufsflächen von Globalen Handelsketten ohne Ende entstehen, mit billigsten Teilzeitarbeitsplätzen.
Überall sieht man es, überall stört es die kleinen Strukturen wie ein Teufelskreis, aber allein einen Hebel in der Flächenwidmung, im Grundverkehr, ... zu setzen ist man nicht imstande.
So wäre es doch beispielsweise Aufgabe und Potential genug, eine hochwertige Veredelung unserer so wertvollen Rohstoffe aus der Landwirtschaft aufzubauen, anstatt alles an Konzerne - sorry - Genossenschaften wie Berglandmilch zu verscherbeln und nieder fahren zu lassen - wenn schon immer so kritisiert wird, dass die Landwirtschaft keine Wertschöpfung bringt im Verhältnis zur Bezuschussung aus div. Fördertöpfen. Und derer Geschichten gäbe es wohl noch einige...
mit Freude habe ich diesen Leserbrief gelesen ... er bestätigt alle Gedanken die ich mir selber über Wirtschaftswachstum mache.
seit einigen Jahren verfolge ich die Ideen von Christian Felber und bin jedesmal begeistert von seinen Initiativen! Hier beschreiten sympatische, fähige Menschen die so dringend benötigten neuen Wege und Denkweisen europaweit ... hier gibt es Vordenker, Querdenker und Träumer die die Hoffnung nicht aufgeben - ich bin stolz auf euch alle ...
"Gemeinwohl-Ökonomie" https://www.ecogood.org/ und "Die Bank für Gemeinwohl" http://www.mitgruenden.at/
"Gemeinwohl-Ökonomiel" wäre ein Ausweg - ein wirtschaftsmodell mit zukunft ... und wir werden immer mehr die diese Hoffnung begeistert leben und verbreiten ...
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